Maigret und die verrückte Witwe. Georges Simenon

Maigret und die verrückte Witwe - Georges  Simenon


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sie nicht mehr genau an ihrem Platz sind. Ich bin eine Ordnungsfanatikerin. Bei mir hat jedes Ding seit mehr als vierzig Jahren seinen Platz.«

      »Und das ist mehrmals passiert?«

      »Mindestens viermal.«

      »Besitzen Sie Wertgegenstände?«

      »Nein, Herr Kommissar. Nur all die kleinen Dinge, die sich im Laufe eines Lebens ansammeln und die man aus Sentimentalität behält.«

      Sie drehte sich jäh um, und er fragte:

      »Werden Sie jetzt gerade verfolgt?«

      »Nein, jetzt nicht. Ich bitte Sie, kommen Sie einmal zu mir. Vor Ort werden Sie alles besser verstehen.«

      »Ich werde das Unmögliche versuchen.«

      »Versuchen Sie doch noch ein bisschen mehr für eine alte Frau wie mich. Der Quai de la Mégisserie ist ganz in der Nähe. Kommen Sie in den nächsten Tagen vorbei, und ich verspreche Ihnen, Sie nicht aufzuhalten und auch nicht wieder in Ihr Büro zu kommen.«

      Sie war ziemlich gerissen.

      »Ich komme bald vorbei.«

      »Noch diese Woche?«

      »Vielleicht. Oder Anfang nächster Woche.«

      Sie hatten seine Bushaltestelle erreicht.

      »Entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Ich muss nach Hause.«

      »Ich verlasse mich auf Sie«, sagte sie. »Ich vertraue Ihnen.«

      Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Ihre Geschichte klang wie eine Wahnvorstellung. Aber wenn sie vor ihm stand und er ihr ins Gesicht sah, war er versucht, ihr zu glauben.

      Als Maigret nach Hause kam, war der Tisch schon fürs Abendessen gedeckt. Er küsste seine Frau auf die Wangen.

      »Du warst doch hoffentlich draußen, bei dem herrlichen Wetter?«

      »Ich habe ein paar Besorgungen gemacht.«

      Dann stellte er ihr eine Frage, die sie überraschte:

      »Sag mal, gehst du manchmal in einen Park und setzt dich auf eine Bank?«

      Sie musste nachdenken.

      »Ja, das kommt schon vor. Vor einem Termin beim Zahnarzt zum Beispiel, wenn ich zu früh bin.«

      »Heute Abend war eine Frau da, die fast jeden Nachmittag auf einer Bank in den Tuilerien sitzt.«

      »Das tun viele.«

      »Hat dich dabei schon mal jemand angesprochen?«

      »Einmal, ja. Die Mutter eines kleinen Mädchens hat mich gebeten, ein paar Minuten auf ihr Kind aufzupassen, weil sie ein paar Erledigungen auf der anderen Seite des Platzes machen wollte.«

      Auch hier war das Fenster weit geöffnet. Zum Abendessen gab es wie an den schönsten Sommertagen charcuterie mit Salat und Mayonnaise.

      »Wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang?«

      Die untergehende Sonne färbte den Himmel noch rosa, und der Boulevard Richard-Lenoir lag still da. Hier und da lehnten sich Leute aus den Fenstern.

      Sie gingen, um zu gehen, aus Freude, beieinander zu sein, aber sie hatten sich nichts Bestimmtes zu sagen. Sie betrachteten dieselben Passanten, dieselben Schaufenster, und hin und wieder machte einer von ihnen eine Bemerkung. Sie waren über die Place de la Bastille gegangen und kehrten über den Boulevard Beaumarchais zurück.

      »Diese merkwürdige alte Dame, die ich heute empfangen habe … Na ja, eigentlich hat Lapointe sie empfangen. Mich hat sie auf dem Quai abgepasst.

      Nach dem, was sie mir erzählt hat, muss sie verrückt sein. Zumindest ist sie nicht ganz richtig im Kopf.«

      »Was ist ihr passiert?«

      »Nichts. Sie behauptet nur, dass die Dinge bei ihr zu Hause die Position verändern, wenn sie nicht da ist.«

      »Hat sie eine Katze?«

      »Das hat Lapointe sie auch gefragt. Sie hat kein Haustier. Sie wohnt über einer Vogelhandlung, und es genügt ihr, die Vögel singen zu hören.«

      »Glaubst du ihr?«

      »Solange sie vor mir stand, habe ich ihr geglaubt. Sie hat ehrliche, gutmütige hellgraue Augen. Gutgläubig wäre vielleicht passender. Sie ist seit zwölf Jahren Witwe und lebt allein. Außer einer Nichte, die sie nur selten sieht, hat sie keine Angehörigen.

      Morgens macht sie ihre Besorgungen im Viertel, mit einem weißen Hut auf dem Kopf und weißen Handschuhen, und nachmittags setzt sie sich meistens auf eine Bank in den Tuilerien. Sie klagt nicht. Sie langweilt sich nicht. Die Einsamkeit scheint ihr nichts auszumachen.«

      »Das ist bei vielen alten Leuten so, weißt du?«

      »Das glaube ich auch, aber bei ihr ist da noch etwas anderes. Ich weiß nur nicht genau, was.«

      Als sie zu Hause ankamen, war es dunkel und die Luft kühl. Sie legten sich zeitig schlafen, und da das Wetter am nächsten Morgen immer noch schön war, beschloss Maigret, zu Fuß ins Büro zu gehen.

      Wie immer erwartete ihn ein Stapel Post. Er konnte sie noch durchsehen und bei seinen Inspektoren vorbeischauen, ehe er zum Rapport musste. Zurzeit gab es keinen dringenden Fall.

      Er verbrachte einen ruhigen Vormittag und aß an der Place Dauphine zu Mittag, nachdem er seine Frau angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass er nicht nach Hause kommen werde. Nach dem Essen wäre er fast über den Pont-Neuf zum Quai de la Mégisserie gegangen. Aber ein Zufall hinderte ihn daran. Er begegnete einem ehemaligen Kollegen, der schon im Ruhestand war, und sie plauderten eine gute Viertelstunde in der Sonne.

      Zweimal dachte Maigret im Laufe des Nachmittags an die alte Dame, der die Inspektoren bereits den Spitznamen »Maigrets Verrückte« gegeben hatten – aber beide Male verschob er seinen Besuch auf später, auf den nächsten Tag zum Beispiel.

      Die Zeitungen würden über ihn spotten, wenn sie von der Geschichte mit den umherspazierenden Dingen Wind bekämen!

      Abends sahen er und seine Frau fern, und am nächsten Tag war er spät dran und nahm den Bus zum Büro. Kurz vor Mittag rief ihn der Kommissar des 1. Arrondissements an.

      »Ich habe hier einen Fall, der Ihre Abteilung interessieren wird. Die Concierge sagt, einer Ihrer Inspektoren sei schon einmal bei ihr gewesen, anscheinend ein sehr hübscher junger Kerl.«

      Maigret ahnte es schon.

      »Am Quai de la Mégisserie?«

      »Ja.«

      »Ist sie tot?«

      »Ja.«

      »Sind Sie vor Ort?«

      »Ich bin in der Vogelhandlung im Erdgeschoss, in der Wohnung gibt es kein Telefon.«

      »Ich bin unterwegs.«

      Lapointe war nebenan.

      »Komm mit!«

      »Was Ernstes, Chef?«

      »Für dich und für mich, ja. Es geht um die alte Dame.«

      »Die mit dem weißen Hut und den grauen Augen?«

      »Ja. Sie ist tot.«

      »Ermordet?«

      »Ich nehme an, sonst hätte der Kommissar mich nicht angerufen.«

      Zu Fuß waren sie schneller als mit dem Auto. Kommissar Jenton, den Maigret gut kannte, wartete auf dem Gehweg neben einem Papagei, der mit einer Kette an seiner Stange festgemacht war.

      »Kennen Sie sie?«

      »Ich bin ihr nur ein Mal begegnet. Ich hatte versprochen, sie bald zu besuchen. Gestern wäre ich fast zu ihr gegangen.«

      Hätte das etwas geändert?

      »Ist


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