Maigret und die verrückte Witwe. Georges Simenon
ist sie gestorben?«
»Das weiß ich noch nicht. Eine Nachbarin aus dem zweiten Stock hat gegen halb elf die Tür einen Spaltbreit offen stehen sehen. Sie hat dem keine Bedeutung beigemessen und ist einkaufen gegangen. Als sie um elf Uhr zurückkam, stand die Tür noch immer offen, und da hat sie gerufen: ›Madame Antoine! Madame Antoine! Sind Sie zu Hause?‹
Da keine Antwort kam, hat sie die Tür aufgestoßen und ist fast über die Leiche gestolpert.«
»Lag sie auf dem Boden?«
»Ja. Im Wohnzimmer. Die Nachbarin hat sofort das Kommissariat benachrichtigt.«
Mit ernstem Gesichtsausdruck stieg Maigret die steile Treppe hinauf.
»Was hatte sie an?«
»Sie trug noch einen weißen Hut und Handschuhe.«
»Äußere Verletzungen?«
»Ich habe nichts feststellen können. Die Concierge hat mir gesagt, einer Ihrer Männer sei vor drei Tagen da gewesen und habe ihr Fragen über die alte Frau gestellt. Da habe ich Sie gleich angerufen.«
Doktor Forniaux kniete auf dem Teppich. Als die drei Männer eintraten, richtete er sich auf.
Sie gaben sich die Hand.
»Kennen Sie die Todesursache?«
»Tod durch Ersticken.«
»Also ist sie erdrosselt worden?«
»Nein. Jemand hat ihr ein Stück Stoff, eine Serviette oder ein Taschentuch, so lange vor Nase und Mund gehalten, bis der Tod eingetreten ist.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich werde es Ihnen nach der Autopsie bestätigen können.«
Das Fenster stand weit offen, und man hörte das Zwitschern der Vögel im Erdgeschoss.
»Was denken Sie, wann ist es passiert?«
»Gestern, am späten Nachmittag oder im Laufe des Abends.«
Die alte Frau wirkte noch zierlicher als zu Lebzeiten. Ihr winziger Körper mit dem einen seltsam angewinkelten Bein erinnerte an eine verrenkte Marionette.
Der Arzt hatte ihr die Augen geschlossen. Das Gesicht und die Hände waren weiß wie Elfenbein.
»Wie lange, glauben Sie, hat es gedauert, bis sie tot war?«
»Schwer zu sagen, besonders angesichts ihres Alters. Fünf Minuten? Vielleicht etwas länger oder kürzer …«
»Lapointe, ruf die Staatsanwaltschaft und das Labor an. Sag Moers, er soll uns seine Männer schicken.«
»Brauchen Sie mich nicht mehr, Messieurs? Wenn Sie hier fertig sind, schicke ich den Leichenwagen und lasse die Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut bringen.«
Der Kommissar des Viertels schickte seinen Polizisten nach unten, wo sich ein paar Leute versammelt hatten.
»Sagen Sie denen, sie sollen weitergehen! Das ist hier kein Jahrmarkt.«
Natürlich waren sie beide an Verbrechen gewöhnt. Doch dieses ging ihnen nahe – vielleicht oder vor allem, weil es sich um eine alte Frau handelte, vielleicht auch, weil sie keine äußeren Verletzungen hatte.
Dazu kam die Einrichtung, die vom Anfang des Jahrhunderts stammte, oder sogar aus dem vorigen Jahrhundert: schwere, polierte Mahagonimöbel und Sessel mit leuchtend rotem Plüsch, wie man sie noch gelegentlich in Wohnzimmern auf dem Land findet. Reichlich Nippes und gerahmte Fotografien standen herum. Auch an den Wänden mit der geblümten Tapete hingen Fotos.
»Wir müssen nur noch auf die Staatsanwaltschaft warten.«
»Da wird schon bald jemand kommen. Man wird uns den erstbesten Assessor samt Schreiber schicken. Der schaut sich hier kurz um, und die Sache ist erledigt.«
So lief es tatsächlich meistens ab. Danach besetzten die Spezialisten den Tatort mit ihren wuchtigen Apparaten.
Die Tür bewegte sich lautlos, und Maigret zuckte zusammen. Es war ein Mädchen, das vermutlich in einem anderen Stock wohnte und etwas gehört hatte.
»Kommst du oft hierher?«
»Nein. Ich war noch nie hier.«
»Wo wohnst du?«
»Gleich gegenüber.«
»Hast du Madame Antoine gekannt?«
»Ich hab sie manchmal auf der Treppe gesehen.«
»Hat sie mit dir geredet?«
»Sie hat mich angelächelt.«
»Hat sie dir nie Bonbons oder Schokolade geschenkt?«
»Nein.«
»Wo ist deine Mutter?«
»In der Küche.«
»Bring mich zu ihr.«
Zum Kommissar des Viertels sagte er:
»Rufen Sie mich, wenn die Staatsanwaltschaft da ist.«
Das Gebäude war alt. Schon lange waren Wände und Decken schief, und in den Dielen klafften Spalten.
»Maman, hier ist ein Herr, der will dich sprechen.«
Die Frau kam aus der Küche und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. An ihrem Unterarm war noch etwas Schaum.
»Kommissar Maigret. Ich habe zufällig gesehen, wie Ihre Tochter die Tür gegenüber aufgemacht hat. Sie wissen von der Leiche?«
»Was für eine Leiche? Geh auf dein Zimmer, Lucette!«
»Die Ihrer Nachbarin.«
»Sie ist tot? Ich habe gewusst, dass das eines Tages passieren würde. In ihrem Alter sollte man nicht allein leben. Ihr ist sicher schwindelig geworden, und sie hat nicht um Hilfe rufen können.«
»Sie wurde ermordet.«
»Ich habe nichts gehört. Auf dem Quai ist ja immer so ein Lärm!«
»Sie ist nicht erschossen worden, und es ist auch nicht heute Morgen passiert, sondern gestern Nachmittag oder Abend.«
»Die Arme! Sie war zwar ein bisschen stolz, aber ich hatte nichts gegen sie.«
»Haben Sie sich gut verstanden?«
»In den sieben Jahren, die wir jetzt hier wohnen, habe ich keine zehn Mal mit ihr gesprochen.«
»Also wissen Sie nichts über sie?«
»Manchmal habe ich sie morgens fortgehen sehen. Im Winter trug sie einen schwarzen Hut, im Sommer einen weißen, und immer Handschuhe, selbst zum Einkaufen. Aber das ging ja nur sie etwas an, oder?«
»Bekam sie Besuch?«
»Meines Wissens nicht … Doch! Manchmal hat eine ziemlich kräftige, fast männlich wirkende Frau bei ihr geklingelt.«
»Tagsüber?«
»Eher gegen Abend. Kurz nach dem Essen.«
»Ist Ihnen in letzter Zeit jemand im Haus aufgefallen?«
»Hier gehen viele Leute ein und aus. Die Concierge bleibt in ihrer Loge hinten im Hof und kümmert sich nicht um die Mieter.«
Sie drehte sich zu ihrer Tochter um, die leise hereingekommen war.
»Was hatte ich gesagt? Geh sofort wieder auf dein Zimmer.«
»Ich komme später noch einmal. Ich werde alle Mieter vernehmen müssen.«
»Sie wissen also nicht, wer es getan hat?«
»Nein.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Eine Frau aus dem zweiten Stock hat gesehen, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand. Als das eine halbe Stunde später noch immer so war, hat sie gerufen