Rulantica (Bd. 2). Michaela Hanauer
zustechen. Aber auf Dauer ist sein Platz unter der Bank sowieso nicht sicher, er kann sich genauso gut gleich stellen. Und immerhin kannte der Mauk seine Mam, was auch immer das bedeutet.
Mats streckt vorsichtig die Gliedmaßen aus. Wie hat er es jemals durch den schmalen Spalt unter die Bank geschafft? Oder ist er in der letzten Viertelstunde dicker geworden? Mit Ach und Krach und einigen Abschürfungen kriecht er unter der Bank hervor. Erschöpft bleibt er auf dem Rücken liegen und schielt nach oben. Über ihm auf der Bank thront ein gigantischer Vogel, er überragt die anderen um Längen, aber vor allem sind seine Federn nicht schwarz, sondern grau, als wären sie im Lauf der Jahre ausgeblichen. Auch seine Schnäbel leuchten kaum mehr, sondern sind schmutzig gelb mit einigen Scharten von den Kämpfen, die er damit zweifelsohne gefochten und gewonnen hat. Denn egal wie alt dieser Mauk auch sein mag, seine aufrechte Haltung und sein alles durchdringender Blick lassen keinen Zweifel daran, dass er immer noch der stärkste und klügste seiner Schar ist. Der wahre König der Insel Rulantica. Und er, Mats, liegt hier vor ihm auf dem Rücken wie ein hilfloser Käfer.
Der Vogel beugt sich über ihn, die beiden Schnäbel kommen seinem Gesicht verflixt nahe. Erst jetzt fallen Mats die stechenden Augen auf, die von gelben Federn umrandet werden wie von einer Maske. Das betont ihren starren Raubvogelblick, unter dem sich Mats kleiner als eine Maus vorkommt. Er wagt es nicht, auch nur zu blinzeln. Der Halsflaum des Mauks plustert sich auf, er bläst ein wenig Luft durch seinen krummen Schnabel und pustet damit Mats’ rote Haarsträhnen aus seiner Stirn.
»Mrk, gut fürr dich, du siehst ihrr ähnlich! Auch wenn du dich seit unserrerr letzten Begegnung sehrr verränderrt hast.«
Der graue Mauk hüpft zurück, um Mats von oben bis unten zu begutachten. Bisher haben die anderen Mauks sich das Spektakel einigermaßen ruhig angesehen, in einem dichten Ring um Mats und die Bank herum. Doch kaum rückt der große Graue etwas von Mats ab, schiebt sich ein schwarzer Vogel an ihn heran, pickt ihn an der Fußsohle und setzt an, ihn aufzuspießen.
»Auaa!«, schreit Mats.
Flap, flap – Mats hört die Flügelschläge mehr, als er sie sieht, aber vor allem spürt er die Bewegung in der Luft. Sie fährt ihm unter die Haare, unter den Rücken und hebt ihn an.
Flap, flap – der schwarze Mauk an seinem Fußende schlägt ebenfalls mit den Flügeln. Mats schwebt einen Meter über dem Boden und kann nichts dagegen unternehmen, er wird zwischen den beiden Raubvögeln hin- und hergezerrt wie ein Spielzeug.
»MRK!«
»Mrk!«
»MRRRKK!«
»Mrk!«
Auch ohne Worte versteht Mats den Machtkampf. Am Ende lässt der schwarze Angreifer als erster von ihm ab. Mats rutscht auf den Boden zurück. Der schwarze fliegt auf und verlässt mit einem letzten »Mrk!« den Raum. Ein paar graue Schwingen breiten sich über ihn. Mats versucht, in dem unbewegten Vogelgesicht und den stechenden Raubvogelaugen zu lesen. Was bedeutet das? Hat der Anführer ihn gerettet? Oder hat er ihn lediglich als Beute für sich beansprucht? Der graue Mauk hebt einen seiner mächtigen Flügel und tastet mit dem spitzen Schnabel die langen Flugfedern ab. Dann lässt er etwas Goldenes vor Mats’ Gesicht baumeln.
»Mrk, es gehörrt dirr!«
Zögernd greift Mats zu.
»Danke. Heißt das, du tötest mich nicht?«
»Mrk, noch nicht.«
Langsam atmet Mats aus. Seine zitternden Finger halten sich an dem Amulett fest. Sein Fuß tut weh, aber sonst scheint noch alles dran zu sein. Behutsam wechselt er in den Schneidersitz und legt sich das Amulett um den Hals. Jetzt nur nicht durchdrehen! Irgendwie diesen Vogel bei Laune halten …
»Du kanntest also wirklich meine Mutter?«
»Mrk, selbstverrständlich. Ich habe Vivika errlaubt, in einem unserrerr besten Nistplätze zu leben, nachdem sie …« Er zögert.
»Nachdem sie was?«, fragt Mats.
»Mrk, warrte«, fordert der graue Mauk und deutet zu seinen schwarzen Untertanen, die mit meist schief gelegten Köpfen weiterhin sehr aufmerksam beobachten, was sie da treiben, jederzeit bereit, Mats erneut anzugreifen, sollte er den Eiern oder ihrem Chef auch nur eine Feder krümmen. Der Graue richtet sich zu seiner vollen Größe auf.
»Mrk, sie beherrrschen eurre Sprrache zwar nicht, dennoch folge mirr!«
Er schlägt einmal mit den Flügeln, stoppt aber, bevor er abhebt, und mustert Mats, der versucht, sich aufzurappeln.
»Mrk, Zweibeinerr …«, krächzt er verächtlich.
Statt zu fliegen, stakst er davon. Trotz seiner Größe und seines Gewichts überraschend behände krallt er sich über die losen Holzlatten und Lücken in den Holzböden. Bereits in der übernächsten Hütte fällt es Mats schwer, Schritt zu halten.
»Warte, ähm, Mauk – bitte, ich kann nicht so schnell!«
Der Riesenvogel dreht leicht den Kopf. »Mrk, Grrå nennt man mich. Wenn ich auf zwei Beinen gehen kann, dann sollte es dirr ebenfalls gelingen!«
»Aber du kennst dich in der Stelzenstadt aus und ich nicht«, wendet Mats ein.
»Mrk, wie deine Mutterr, immerr das letzte Worrt!«
Unwillig pickt der große Vogel in die Luft.
»Erzählst du mir jetzt, warum du sie hier hast wohnen lassen?«, lenkt Mats ab und versucht schnaufend, den Abstand zwischen sich und Grå zu verkürzen.
»Mrk, und genauso gewitzt wie sie!« Es klingt fast, als würde der Riesenvogel ihn auslachen. »Mrk, nun gut, du magst ein Rrecht haben, es zu hörren. Auch dem König der Lüfte kann ein Ungeschick passieren. In einem Kampf, den ich gegen einen Hai austrrug, verbiss ich mich mit beiden Schnäbeln im Schiffsmast von einem der Wrracks am Goldstrrand. Du weißt, wo das ist?«
Mats nickt. Finja hat ihm den Strand gezeigt.
»Mrk. Dorrt saß ich mit offenem Hauptschnabel, hätte ich ihn geschlossen, hätte der Splitterr mirr beide Schnäbel durchbohrrt. Mit geöffnetem Schnabel wiederrum warr ich wehrrlos und dazu verrdammt, frrüher oder späterr zu verhungerrn.«
»Klingt übel!«, meint Mats.
»Mrk, und hätte mich ein krräftiger Jungvogel meiner Scharr, so einerr wie derr, mit dem ich mich gerrade messen musste, vorrgefunden, wärren meine Königstage schnell beendet gewesen.«
Mats zählt eins und eins zusammen. »Aber meine Mutter hat dir geholfen?«
Grå nickt. »Mrk, sie warr kurrze Zeit vorrherr gestrrandet und errkannte trrotz ihrrerr misslichen Lage auch die meine. Deine Mutterr … Vivika … sie warr furrchtlos, frreundlich und hilfsberreit. Eine seltene Kombination. Durrch sie habe ich die Vorrzüge von Händen und Fingerrn errkannt. Voherr hätte ich jederrzeit unserre Flügel eurren Arrmen vorrgezogen.«
Mats betrachtet seine Hände, ballt sie zu Fäusten, streckt die Finger wieder aus und zappelt mit ihnen herum. Bisher hat er seine Hände ganz selbstverständlich benutzt, aber wenn er jetzt so darüber nachdenkt, kann er damit tatsächlich eine Menge anfangen, sich festhalten, ziehen, schieben, drücken, etwas hochheben, sich kratzen und nötigenfalls sogar in der Nase bohren. Das alles können die Mauks und viele andere Tiere nicht.
»Dafür kannst du fliegen«, murmelt er.
»Mrk, Fliegen ist kaum zu überrtrreffen, wenn man nicht gerrade ein Holzstück im Schnabel hat«, gibt Grå zu.
»Aber meine Mutter konnte es herausziehen?«
Grå schüttelt sein Gefieder, als würde er sich nicht gerne daran erinnern. »Mrk, eine Qual, die mit Qual beendet wurrde.
Zum Dank bot ich Vivika die Behausung an, die wir dorrt drrüben …«, er deutet mit den Schnäbeln an den Rand der Siedlung, »…