Rulantica (Bd. 2). Michaela Hanauer

Rulantica (Bd. 2) - Michaela Hanauer


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überall häufen sich Schilfblätter, Gras und Stroh. Wenn er sich jede Hydda so genau anschaut, wird er frühestens in einer Woche alle besichtigt haben. Zu dumm, dass Venn ihm nicht genau beschreiben konnte, wo seine Mam gewohnt hat.

      Mit jedem weiteren Haus werden die Schatten länger, das ist Mats bewusst, immerhin ist er erst spät nach Mittag von dem Festessen aufgebrochen. Trotzdem will er den goldroten Schein der untergehenden Sonne nicht wahrhaben. Nur noch ein Haus, das nächste muss es doch sein. Oder das übernächste …

      Er will nicht aufgeben, gerade nach der Pleite beim Rennen wünscht er sich sehnlich einen Hinweis auf seine Mutter. Besonders, weil er Finja seinen Fund präsentieren könnte, nachdem sie sich seelenruhig mit Seespargel vollgestopft hat. Vielleicht interessiert sie sich dann wieder mehr für ihn – und für die gemeinsame Suche nach ihrer Vergangenheit. Ursprünglich hat sie ihn in der Menschenwelt aufgestöbert, wollte alles über ihre Eltern herausfinden und war sogar bereit, Rulantica für immer zu verlassen. Und jetzt? Seit sogar Exena sie für die auserwählte Retterin Rulanticas hält und sie zur Quellwächterin ausbildet, hat Finja nichts anderes mehr im Sinn. Ihr fällt nicht einmal auf, dass Exena ihm nichts zutraut, obwohl sie doch Zwillinge sind und beide eine Hälfte von Friggs Amulett besitzen. Diese Gedanken lassen Mats noch eifriger weiter- und weitersuchen.

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      »Mrk, mrrrk!«

      Zu spät fällt Mats auf, wie sich der Himmel komplett verdunkelt. Ganz ohne Übergang zur Dämmerung. Er hebt erst den Kopf, als das Kreischen unerträglich laut wird.

      »MRK, MRRK, MRRRRKK!«

      Mats zuckt zusammen, über dem Loch im Dach der Hydda kreisen mehrere Vögel. Tiefschwarz glänzt ihr Gefieder. Mit ausgebreiteten Flügeln ist jeder einzelne von ihnen größer als Mats, er schätzt eine Spannbreite von zwei bis drei Metern. Und als ob das nicht genügen würde, hat jeder Riesenvogel zwei Schnäbel, der eine gefährlich spitz und dünn wie ein Dolch, der andere größer, kräftig und nach unten gebogen. In schrillem Gelb leuchten sie an den schwarzen Köpfen.

      Wie konnte er sie vergessen: die schwarzen Mauks! Finja hat ihn gewarnt, sogar Snorri hat Angst vor ihnen, sie kennen weder Freunde noch Gnade. Und damit nicht genug, was er für zufällige Ansammlungen von Schilf und Stroh gehalten hat, sind in Wahrheit ihre Nester. Rangnakor ist längst nicht mehr die Stadt der Wikinger, sondern der Riesenvögel! In dem Schilfhaufen direkt neben Mats liegt außerdem ein dunkler Brocken. Bei genauerem Hinsehen entpuppt er sich als großes schwarzes Ei – oh, oh: Er steht mitten in einem Brutplatz – das sieht nicht gut für ihn aus! Die Mauks müssen ihn nicht nur für einen Eindringling halten, sondern für einen Dieb, der ihrem Nachwuchs an die Eierschale will.

      Er hat den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als der erste Mauk bereits zum Sturzflug ansetzt. Mats springt zur Seite, trotzdem trifft der spitze Schnabel ihn an der linken Schulter und das krumme Ende des zweiten Schnabels ritzt seine Haut auf.

      »A-aa!«, brüllt Mats.

      Da spürt er bereits den nächsten Stich im Rücken.

      »Mrrk!« Mit einem triumphierenden Schrei trägt sein Gegner einen Fetzen seines Pullis davon.

      Mats geht in die Knie und schnappt sich den nächstliegenden Balken, er schwingt ihn über dem Kopf wie einen Propeller. Einen seiner Angreifer erwischt er am Flügel und drängt ihn ab, doch sofort rückt der nächste Mauk auf und stößt in die Tiefe. Mats spürt den Schmerz am Oberschenkel, in seiner Hose klafft ein Loch. Sein Gegenangriff bringt überhaupt nichts, dafür sind es zu viele und ständig drängen mehr Mauks von draußen nach. Er muss sich irgendwie schützen, um nicht als Schweizer Käse mit tausend Löchern zu enden. Hektisch schaut er sich um. Ob er es bis zu der Bank dort drüben schaffen kann?

      Mats kugelt sich zusammen und rollt, so schnell er kann, über den Boden. Es kracht und knackt bedenklich unter ihm, ein Flügel streift seinen Arm, ein Schnabel schlägt direkt neben seinem Kopf ein.

      »MRRK, MRRRRKKKK, MRRRRRRKKKKKK!«

      Wütend, weil sie ihn nicht voll erwischen, aber umso angriffswilliger formieren die Mauks sich neu. Mats nutzt die Gelegenheit und verschanzt sich unter der Bank und nimmt noch ein Holzscheit zur Verteidigung mit. Wirklich sicher ist er hier nicht, aber er bietet weniger Angriffsfläche als vorher, vor allem sind die Mauks zu groß, um zu ihm unter die Bank zu kriechen. Der nächste Mauk fliegt heran, hackt aber lediglich ins Holz. Doch schon lassen sich zwei weitere Riesen direkt über ihm auf der Sitzfläche nieder und fangen an zu picken. Jede Holzfaser, die sie herauszupfen, macht Mats eines bewusst: Er sitzt in der Falle! Denn auch von der unteren schmalen Seite watschelt einer der Vögel heran und krallt durch die Ritze.

      Mats muss immer wieder die Füße wegziehen, damit die scharfen Krallen ihm nicht die Sohlen aufschlitzen. An seinem Kopfende ein ähnliches Spiel, ein Mauk äugt abwechselnd durch die Balken, und sobald er Mats sieht, schiebt er den Schnabel in seine Richtung. Von allen Seiten wird Mats bedroht – er krümmt sich so klein zusammen wie möglich und kann den Angreifern doch nicht komplett ausweichen. Hätte er bloß auf Venn gehört und wäre bei Tageslicht aus der Stadt verschwunden! Venn! Der könnte ihn retten. Soll er nach ihm rufen? Besser nicht, Venn würde es nicht schaffen, zu ihm hochzuklettern, und bei dem Versuch womöglich abstürzen. Mats könnte es sich nie verzeihen, den einzigen Freund zu gefährden, den er je hatte.

      Andere Auswege sind allerdings nicht in Sicht, im Gegenteil, einem Mauk über ihm gelingt es, ein großes Holzstück aus der Bank zu meißeln, sein Schnabel pickt durch das Loch und zwickt Mats auf Brusthöhe, nicht tief genug, um ihn zu verwunden, aber er erwischt das Band, an dem seine Amuletthälfte hängt.

      »Nein, nein, das bekommst du nicht, du Biest«, ruft er verzweifelt und versucht noch, das Band festzuhalten. Zu spät, samt Anhänger baumelt es im Schnabel seines Angreifers.

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      »Mrrrrr-KKK«, triumphiert der Vogel. Seine Freunde hören für einen Moment sogar auf, Mats weiter zu belagern, um sich die Beute anzusehen. Die Pause reicht lediglich für ein kurzes Durchatmen, seine Lage ist aussichtslos, früher oder später werden sie seinen Schutzwall weggepickt haben und dann gnade ihm Frigg.

      »MRK!«

      Das aufgeregte Kreischen verstummt wie auf Knopfdruck. Mats späht durch die Ritzen. Alle Mauks scheinen in dieselbe Richtung nach oben zu blicken, doch er kann nicht erkennen, was sie sehen. Das Schlagen von Flügeln kündigt einen weiteren Vogel an, dann biegen sich die Balken über Mats, als der Neuankömmling auf der Bank landet. Eine Klaue, die um einiges ausladender ist als die der anderen Mauks, gräbt sich in das Loch über Mats’ Brust, mehr kann er immer noch nicht sehen. Trotzdem vermutet Mats den Anführer der Mauks über sich, warum sonst sollten sie so ruhig sein. Wenn er recht hat, wird dieser Riesenvogel über sein weiteres Schicksal entscheiden, ihn seiner Meute endgültig zum Fraß vorwerfen oder ihn sich selbst zum Abendessen einverleiben. Einwenden kann er dagegen kaum etwas, sie werden nicht auf ihn hören, aber er muss es wenigstens versuchen.

      »Ich wollte euch nichts tun! Auch keines eurer Eier stehlen.«

      Was treibt er da? Wie kommt er darauf, mit ihnen reden zu können? Außer Kreischen hat er nichts von ihnen verstanden, warum sollte das umgekehrt anders sein? Die Tatsache, dass er plötzlich mit Venn sprechen kann, muss ihn total verwirrt haben! Mats zieht die Beine enger an den Körper, faltet die Hände über dem Kopf und stellt sich auf die finale Attacke ein. Wie erwartet legen die Mauks wieder los. Mrk hier, Mrk dort und alle hacken auf die Bank über ihm ein.

      Finja

      Finja fischt mit den Fingern noch ein paar Seespargelstängel aus der großen Kalkschale. Einen davon hält sie hoch und sofort ist Snorri bei ihr.

      »Smm!«, schmatzt er und stibitzt sich mit seinen sechs Fangarmen abwechselnd die besten Happen, sobald ein Meermensch seinen Muschelteller unbeaufsichtigt lässt. Soll er! Heute ist ein Festtag, auch für den kleinen Sixtopus! Finja lächelt hinüber zu Kailani und Bror, ihrem Ziehvater, der


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