Rulantica (Bd. 2). Michaela Hanauer
unaufhaltsam. Das Tor sieht so verflixt eng aus, passen sie da wirklich durch? Ohne abzubremsen? Venn schrappt mit der Flanke am Torbogen entlang, aber sie schaffen es!
Die Steinaugen auf dem Meeresboden führen zum Kelpwald. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts eine Wand vor ihnen auf. Aus blanken Eisblöcken errichtet und schier unüberwindbar. Blitzschnell muss Mats entscheiden – links oder rechts, auf welche Seite soll er ausweichen? Oder …? Mats reckt sich in die Höhe und lenkt damit auch Venns Richtung. Obendrüber!
Ewig zieht sich die Eismauer. Venn steigt und steigt. Mats verlagert sein Gewicht, um kein Ballast zu sein. Hoffentlich war das richtig und die Wand stellt sich nicht als Kuppel heraus wie die Stadtmauer rundum die Eisstadt. Die ersten Sonnenstrahlen jenseits der Wasseroberfläche lassen sich bereits erahnen, kurz bevor die Wand endlich endet. Venn streckt die Vorderbeine, gibt einen kräftigen Schub mit dem Fischschwanz und gleitet in hohem Bogen über das Hindernis. Doch an Aufatmen ist nicht zu denken. Auf der anderen Seite empfängt sie Finsternis. Keine Spur mehr von den Sonnenstrahlen, auch nicht von dem normalen Dämmerlicht unter Wasser. Man kann die Hand vor Augen nicht sehen. Wohin jetzt? Sollen sie anhalten oder weiterschwimmen? Mats verliert augenblicklich die Orientierung, er zupft an Venns Mähne. Wo ist oben, wo ist unten?
»Beruhige deinen Atem, ich sehe für uns beide!«
Mats stutzt, während sein Körper auf Venn weiter abwärtsrast. Wer hat da gesprochen? Er hat die Stimme noch nie gehört und sie ist ihm dennoch vertraut. Venn! Das ist Venn! So deutlich hat Mats sein Wasserpferd noch nie verstanden. Er redet in echten Worten mit ihm, oder macht ihn das Renntempo völlig irre? Kann das wahr sein? Aber seine Aufforderung ergibt Sinn und hilft Mats tatsächlich, den Anflug von Panik zu besiegen. Er schmiegt sich an das Wasserpferd und lässt sich von ihm durch die Dunkelheit tragen. Für einen Moment blendet er das Rennen aus. Dann holen ihn Rufe zurück in die Realität des schwarzen Ozeans.
»Hier geht’s lang!«
»Vorsicht, das ist eine Falle!«
»Wer garantiert mir, dass es nicht deine Falle ist?«
Kehliges Lachen. »Das ist meine Falle!«
»Friss meinen Sand!«
»Friss du meinen!«
Mats beißt sich auf die Zunge. Die beiden Quellwächter sind ganz nah. Sie ahnen nicht, dass er es auch über die Mauer geschafft hat, und sehen können sie ihn genauso wenig wie er sie. Eines der anderen Kelpies schnaubt, findet aber keine Beachtung, weil die beiden ihren Streit fortsetzen.
»Das Løp auf diese Weise zu gewinnen, ist selbst für dich unwürdig!«
»Ein ehrlicher Kampf führt immer zu einem würdigen Gewinner!«
Mats vernimmt ein dumpfes Schlaggeräusch, es folgt ein Triumphschrei.
Ein Gegner weniger. Die Teilnehmer schrecken scheinbar nicht davor zurück, einen Freund auszuschalten, und Mats hat noch nicht mal echte Freunde unter den Quellwächtern. Besser, er bleibt weiter leise und unentdeckt.
Genauso abrupt, wie sie aufgetaucht ist, endet die Schwärze. Hektisch blickt Mats sich um, rechnet damit, dem Schläger direkt in die Faust oder in den gezückten Zweizack zu reiten. Sie sind immer noch außerhalb der Eisstadt und erstaunlicherweise auf dem Parcours, wie der von Steinaugen gesäumte Sand unter ihnen verrät. Doch es ist weiterhin niemand zu sehen. Nur zu hören. Ein Schimpfen und Fluchen, das von überall und nirgends durchs Wasser getragen wird. Er treibt Venn an. Auf den wogenden Kelpwald zu, aus dem er Schreie und Jammern hört. Wahrscheinlich stecken einige Reiter hier fest, aber die dichten grünen Blätter geben nichts preis. Während Mats überlegt, außen herum zu reiten, löst sich etwas aus den Tangblättern. Es sind Eisblumen. Wunderschön, aber scharfkantig wie Messerklingen. Sie rotieren um die eigene Achse und halten auf Mats und Venn zu.
»Vorsicht!«, ruft Mats.
Trotzdem erreicht eine ihr Ziel, streift Venn an der Flanke. Das Kelpie schnaubt wütend auf, blaues Blut tropft aus der kleinen, aber tiefen Wunde. Rasch presst Mats seinen Pulloverärmel darauf und hofft, damit irgendwie die Blutung zu stoppen. Gleichzeitig hält er Ausschau nach weiteren Geschossen. Da wirbelt der nächste Schwung durchs Wasser.
»Nach links!«, brüllt Mats und dirigiert Venn in das dichte Pflanzengeflecht des Waldes. Bis hierhin dringen zwar die Geschosse nicht vor, aber sie kommen kaum voran. Immer enger schlingen sich die Tangstängel um Venns Vorderbeine. Kaum hat das Kelpie einen Knoten abgeschüttelt, bilden die Blätter den nächsten. Mit beiden Händen zerrt Mats ebenfalls an den grünen Schlingen. Je mehr er versucht, sie fernzuhalten, desto heftiger schneiden sie ihm in die Handflächen. Hätte er doch besser einen Zweizack mitnehmen sollen wie einige der anderen Quellwächter? Aber das unhandliche Teil stört ihn beim Reiten und er kann sowieso nicht besonders geschickt damit umgehen.
Ohne ihn und sein Kelpie zu beachten, huschen einige bunt schillernde Fische an ihnen vorbei, für die Fischchen sind die Blätter kein Hindernis, sondern ein idealer Schutz. Unwillig schüttelt Venn seinen Kopf, wodurch seine lange Mähne sich umso tiefer im Tang verfängt.
Das ist es! Nicht nur Venns Größe ist schuld an dem Dilemma!
»Wir zappeln zu viel«, stellt Mats fest. »Das bringt die Stängel überhaupt erst in Schwung.«
Venn schnaubt verächtlich einige Tangblätter von sich weg, prompt schwappen sie zurück und versuchen, sich um sein Maul zu ranken.
Mats entknotet seinen Freund vorsichtig und beobachtet dabei wieder ein paar der kleinen Fische. Ein leichter Anschub mit ihrem Fischschwanz und schon gleiten sie geschmeidig durch den Wald.
»So versuchen wir das jetzt auch!«, fordert er von Venn. »Du machst dich so lang und dünn wie möglich und ich bringe uns da durch!«
Behutsam lässt Mats sich von Venns Rücken gleiten. Venn brummelt zwar unwillig, legt dann aber die Vorderbeine an seinen mächtigen Körper, streckt den Kopf und den Fischschwanz und bewegt sich nicht weiter. Mats hält sich mit den Armen an Venn fest und stößt sich mit den Beinen ganz sacht ab. Der Tang streift an Mats’ Armen und Beinen entlang, aber verwickelt sie nicht mehr. Auf diese Weise kommen sie zwar nur im Seeschneckentempo voran, bleiben aber wenigstens nicht stecken. Erst nach einer endlosen Weile verlassen sie den Kelpwald.
»Wenn das so weitergeht, werden wir nicht Erste, sondern Letzte«, seufzt Mats.
Eine Spur von Odins Augen liegt wieder direkt unter ihnen, ein gutes Stück vor ihnen schwimmen mindestens drei Reiter dicht hintereinander. Soweit Mats es erkennen kann, sind es keine Veteranen, sondern seine ehemaligen Verfolger, unter ihnen Zwart.
Mist, dann hat ihn wahrscheinlich das halbe Feld überholt. Rasch blickt er sich um. Etwas höher, aber noch hinter ihm, nähern sich ebenfalls Reiter. Ein Kelpie zieht eine blaue Blutspur durchs Wasser, vermutlich wurde es von den Eisblumen getroffen, was seinem Reiter allerdings völlig egal ist, er treibt es mit dem Zweizack an.
»Jetzt aber schnell!«, ruft Mats.
Er zieht sich zurück auf Venns Rücken, klammert sich mit den Beinen und Armen fest und überlässt ihm das Rennen. Venn fliegt förmlich durch das Wasser und wäre beinahe ungebremst dem nächsten Hindernis in die Seite gerast. Gerade noch rechtzeitig zieht Mats an seiner Mähne und bringt ihn zum Halten. Ein riesiger Eishai versperrt mit seinem massigen Körper der Länge nach den Weg. Aus der Ferne hätte man ihn für einen Teil der Felsen halten können. Seine Haut ist genauso grau und zerklüftet. Leider ist er aber sehr viel gefährlicher mit seinem Maul voller spitzer Zähne, mit denen er Mats problemlos beide Beine oder gleich den ganzen Kopf abbeißen könnte.
»Eishaie sind Exenas Lieblinge«, murmelt Mats. »Aber wie kommen wir an ihm vorbei, ohne dass er uns in Stücke reißt?«
Wie zum Beweis seiner Bösartigkeit lässt der Hai seine Zahnreihe blitzen, kommt aber nicht näher. Noch nicht.
Venn schnaubt. Es klingt