Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Sir Arthur Conan Doyle
Gefahr zu entgehen, die Sie bedroht. Dann muss der Schleier gelüftet werden, und die Schuldigen finden ihre Strafe. Wie kehren Sie zurück?“
„Mit dem Zuge vom Waterloobahnhof.“
„Es ist noch nicht neun Uhr. Die Strassen sind jetzt belebt, und so hoffe ich, Sie sind sicher. Doch können Sie nicht vorsichtig genug sein.“
„Ich bin bewaffnet.“
„Das ist recht. Morgen nehme ich Ihren Fall in Angriff.“
„So darf ich Sie in Horsham erwarten?“
„Nein, Ihr Geheimnis liegt in London verborgen; hier muss ich danach forschen.“
„So werde ich Sie in den allernächsten Tagen aufsuchen und Ihnen über Kasten und Papiere berichten. Ihr Rat soll genau befolgt werden.“
Er reichte uns die Hand und verabschiedete sich. Draussen heulte der Wind noch immer, und der Regen schulg an die Fenster. Es war, als hätten die entfesselten Elemente diese merkwürdige Begebenheit zu uns hereingeweht — wie einen von den Wogen angeschwemmten Büschel Seetang, den nun das tobende Meer wieder verschlang.
Schweigend sass Sherlock Holmes und starrte sinnend in die rote Feuerglut. Dann steckte er seine Pfeife an, lehnte sich bequem zurück und blickte den einzelnen Rauchringen nach, die zur Decke emporstiegen.
„Mich dünkt, Watson,“ bemerkte er endlich, „ein so phantastischer Fall ist uns noch nicht vorgekommen.“
„Höchstens der des ,Zeichen der Vier‘. 2
„Nun ja, den nehme ich aus. Und doch glaube ich, dass John Openshaw in noch grösserer Gefahr schwebt, als damals die Scholtos.“
„Hast du irgend welche bestimmte Vermutung über die Art dieser Gefahr?“
„Darüber ist kein Zweifel möglich.“
„So sprich! Wer ist dieser K. K. K., und warum verfolgt er die unglückliche Familie?“
Sherlock Holmes schloss die Augen, stützte die Ellenbogen auf die Lehnen seines Stuhles und legte die Fingerspitzten aneinander. „Der vollendete Denker,“ sagte er, „müsste eigentlich imstande sein an der Hand einer einzigen Thatsache, welche ihm in allen ihren Beziehungen klar geworden ist, sowohl die Begebenheiten, die daraus folgten, als auch diejenigen, welche vorausgingen, zu ermitteln. Genau so, wie Cuvier den Bau eines ganzen Tieres bei der Betrachtung eines einzigen Knochen festzustellen vermochte. Wir sind uns noch viel zu wenig bewusst, was wir alles durch blosse Geistesarbeit erreichen können. Mit Hilfe des Studiums vermag man Probleme zu lösen, an welchen diejenigen verzweifeln, die die Lösung nur vermittelst ihrer fünf Sinne zu finden trachten. Der Höhepunkt der Kunst lässt sich jedoch nur erreichen, wenn der Forscher es versteht, alle Fakta zu benutzen, die zu seiner Kenntnis gelangen. Das hat aber ein so universelles Wissen zur Voraussetzung, wie es selbst in unserer Zeit freier und allgemeiner Bildung nur wenigen zugänglich ist. Dagegen scheint es mir nicht so ganz unmöglich, dass ein Mensch alles Wissen besitzt, das ihm in seinem Fach nützlich werden kann, und dies zu erwerden habe ich mich redlich bemüht. Entsinne ich mich recht, so hast du einmal in den Tagen unsrer frühsten Freundschaft die Grenzen meiner Fähigkeiten sehr genau verzeichnet.“
„Jawohl,“ erwiderte ich lachend, „es war eine gelungene Liste. Philosophie, Astronomie und Politik waren darin — wenn ich mich recht erinnere — mit einer Null versehen. In Botanik warst du ungleich, in Geologie dagegen sehr gründlich, namentlich mit Bezug auf Dreckspuren aus jeder beliebigen Gegend im Umkreis von London; mit Chemie stand’s brillant; Kenntnisse in Anatomie unsystematisch; in Kriminallitteratur ein hervorragender Kenner. Im übringen guter Boxer, Fechter, Jurist. So lauteten wohl die Hauptpunkte meiner Analyse.“
Holmes lachte. „Und ich sage heute wie damals: Der Mensch soll seine kleinen Gehirnkammern mit dem füllen, was er voraussichtlich brauchen wird, das übrige kann er in den dunkelsten Winkel seiner Bibliothek stecken, wo er es im Notfall findet. In einem Fall, wie der und heute abend vorgelegte, gilt es eine Musterung von allem, was uns nur irgend zu Gebote steht. Bitte, reiche mir den Buchstaben K der Amerikanischen Encyklopädie, die auf dem Regal hinter dir steht. — Danke. — Nun lass uns die Sache näher betrachten und sehen, was man daraus folgern kann. Vor allem ist mit ziemlicher Gewissheit anzunehmen, dass Oberst Opensham einen sehr triftigen Grund hatte, Amerika zu verlassen. Männer seines Alters ändern nicht leicht ihre Gewohnheiten und vertauschen nicht gern das liebliche Klima Floridas gegen das einsame Leben einer englischen Provinzialstadt. Seine übergrosse Zurückgezogenheit in England lässt uns vermuten, dass er sich vor jemand oder vor etwas fürchtete, und dass ihn diese Furcht aus Amerika vertrieben hat. Was dies Befürchtete war, können wir uns aus den schrecklichen Briefen folgern, die er und seine Familie erhielten. Hast du die Postzeichen auf den Briefen bemerkt?“
„Der erste kam aus Ponditscherri, der zweite aus Dundee und der dritte aus London.“
„Aus Ost-London. Was folgerst du daraus?“
„Es sind drei Seehäfen. Also war der Schreiber an Bord.“
„Vortrefflich. Da halten wir schon einen Faden. Es ist unbedingt anzunehmen — ja, fast zweifellos, dass der Schreiber an Bord eines Schiffes ist. Und nun ein zweiter Punkt: Nach dem Brief aus Ponditscherri verstrichen sieben Wochen zwischen Warnung und Ausführung, nach dem aus Dundee nur drei bis vier Tage. Giebt uns das keinen Anhalt?“
„Im ersteren Fall war eine grössere Entfernung zurückzulegen.“
„Aber dies gilt auch von dem Brief.“
„Dann werde ich nicht klug daraus.“
„Es liegt wenigstens die Vermutung nahe, dass der Mann oder die Männer an Bord eines Seglers sind. Fast scheint es, sie schicken ihre eigentümliche Warnung oder ihr Zeichen voraus, sobald sie sich auf den Weg machen, um ihre Absicht auszuführen. Du siehstm wie rasch die That auf den Brief aus Dundee folgte. Wären die Leute auf einem Dampfer von Ponditscherri gekommen, so würden sie fast zugleich mit ihrem Brief angelangt sein. Es steht aber fest, dass sieben Wochen dazwischen verstrichen. Mir scheint, diese sieben Wochen bilden den Unterschied in der Zeit zwischen der Fahrt des Postdampfers, der den Brief beförderte, und dem Segler, der den oder die Schreiber brachte.“
„Das ist möglich.“
„Mehr als das — es ist wahrscheinlich. Und nun begreifft du die Dringlichkeit dieses neuen Falles und weshalb ich den jungen Openshaw zur Vorsicht ermahnte. Der Schlag fiel stets, wenn die Zeit um war, deren der Absender bedurfte, um selbst die Entfernung zurückzulegen. Der letzte Brief kommt aus London, und so ist nicht auf Aufschub zu rechnen.“
„Grosser Gott!“ rief ich aus, „was mag diese erbarmungslose Verfolgung bedeuten?“
„Sichtlich sind die Papiere, welche Openshaw besass, der Person oder den Personen auf dem Segler von grösster Wichtigkeit. Offenbar sind es ihrer mehrere. Ein Mann allein hätte schwerlich zwei derartige Mordthaten auszuführen vermocht. Es müssen entschlossene, verwegene Leute sein. Sie wollen ihre Papiere — mag sie haben, wer da will. Wie mir scheint, sind diese drei K nicht sowohl die Anfangsbuchstaben eines Einzelnen, als das Kennzeichen einer Verbindung — aber welcher Verbindung? — Hast du nie,“ fragte Sherlock Holmes, sich vorbeugend und leiser sprechend, „vom Ku-Klux-Klan reden hören?“
„Niemals.“
Holmes blätterte in dem Buche auf seinem Knie. „Da ist’s,“ sagte er:
Ku-Klux-Klan. Das Wort kommt von der sonderbaren Aehnlichkeit seines Klanges mit dem Spannen einer Feuerwasse. Dieser schreckliche Geheimbund wurde von einigen exkonföderierten Soldaten in den Südstaaten nach dem Bürgerkrieg geschlossen, und schnell verzweigte er sich in verschiedenen Gegenden, besonders in Tennessee, in Louisiana, Carolina, Georgia und Florida. Seine Macht diente politischen Zwecken, hauptsächlich dazu, die Neger-Wähler, welche für die Stimmberechtigung der Neger eintraten, zu terrorisieren und diejenigen zu morden oder aus dem Lande zu treiben, die sich den Prinzipien der geheimen Gesellschaft widersetzten. Ihren Gewaltthaten ging meist eine Warnung an das ausersehene Opfer voraus, ein phantastisches, leicht zu erkennendes Zeichen