Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Sir Arthur Conan Doyle

Die Abenteuer des Sherlock Holmes - Sir Arthur Conan Doyle


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ereilte ihn meist auf sonderbare, unerwartete Weise. Die Organisation der Verbindung war so vollendet, ihre Methode so systematisch, dass sich kaum von einem Fall berichten lässt, wo es einem Menschen gelungen wäre, sich ihr ungestraft zu wiedersetzten oder die Urheber zu ermitteln. Viele Jahre hindurch nahm der Bund einen immer grösseren Aufschwung trotz aller Anstrengungen der Regierung wie der angesehensten Bürger im Süden. Im Jahr 1869 geriet er aber ganz plötzlich in Verfall, und nur vereinzelt kamen von jener Zeit an noch durch ihn verübte Gewaltthätigkeiten vor.

      „Beachte wohl,“ sagte Holmes, das Buch beiseite legend, „dass das plötzliche Aufhören dieses Geheimbundes mit der Zeit zusammenfällt, wo Openshaw mit jenen Papieren Amerika verliess. Wer weiss, ob nicht Ursache und Wirkung hier nahe bei einander liegen. Da wäre es kein Wunder, wenn einzelne der Unversöhnlichsten es auf ihn und seine Familie abgesehen hätten. Du begreifst, was von diesen Registern und Notizen für manche hochgestellte Persönlichkeit in den Südstaaten abhängen kann, und dass da mancher nicht ruhig schläft, ehe die Papiere wieder herbeigeschafft sind.“

      „Demnach enthielte das Blatt, das wir gesehen haben . . .“

      „Was zu erwarten stand. Irre ich nicht, so hiess es dort: ,Die Kerne wurden zugestellt an A, B und C,‘ — das bedeutet so viel wie: die Warnung der Verbindung wurde ihnen zugeschickt. Dann folgten Angaben, wonach sich A und B rechtfertigten oder auswanderten, C aber nahm, wie ich fürchte, ein schlimmes Ende. Ich hoffe, Doktor, es wird uns gelingen, den Schleier dieser dunkeln Geschichte zu lüften; einstweilen aber kann der junge Openshaw nichts thun, als was ich ihm riet. Heute ist alles weitere Reden und Handeln überflüssig — darum reiche mir meine Geige! Wir wollen versuchen, auf eine halbe Stunde das garstige Wetter und das noch garstigere Gebaren unserer Mitmenschen zu vergessen.“

      Der Himmel hatte sich am nächsten Morgen aufgehellt, und in gedämpfter Klarheit schien die Sonne durch den grauen Schleier, der gewöhnlich über der Grossstadt schwebt.

      Sherlock Holmes frühstückte bereits, als ich herabkam.

      „Entschuldige, dass ich nicht gewartet habe,“ sagte er, „voraussichtlich bekomme ich heute für den jungen Openshaw tüchtig zu thun.“

      „Was sind deine ersten Schritte?“

      „Die hängen vom Ergebnis meiner ersten Erkundigung ab. Vielleicht muss ich doch nach Horsham.“

      „So fängst du nicht damit an?“

      „Nein, mein erster Weg ist nach der City. — Klingle gefälligst. Das Mädchen bringt dir den Kaffee.“

      Während ich wartete, warf ich einen Blick in die noch ungelesene Zeitung; er fiel auf einen Bericht, bei dem es mich kalt überlief.

      „Holmes!“ rief ich aus, „du kommst zu spät.“

      „Was?“ sagte er und stellte die Tasse hin. „Ich befürchtete es schon! Wie ist’s geschehen?“ Er sprach gelassen, doch sah ich, dass er tief erschüttert war.

      Ich hatte den Namen Openshaw gelesen und darüber stand: ,Tragödie ander Waterloo-Brücke.‘ Da ist der Bericht.

      Gestern abend zwischen neun und zehn Uhr vernahm der Schutznmann Cook von der Division H., bei der Waterloo-Brücke stationiert, einen Hilferuf und einen Fall ins Wasser. Die Nacht war so stürmisch und finster, dass trotz der Hilfe mehrerer Vorübergehenden jegliche Rettung unmöglich blieb. Die Stadtpolizei wurde alarmiert, und es gelang, der Körper herauszuziehen. Der Ertrunkene ist ein junger Mann, Namens John Openshaw, wohnhaft zu Horsham, wie sich aus einem Briefumschlag erwies, den er in seiner Tasche trug. Es ist anzunehmen, dass er zum letzten Zug an die Waterloo-Station wollte; bei seiner Hast und der ausserordentlichen Dunkelheit hat er wohl den Weg verfehlt und ist auf einen der schmalen Stege geraten, die den Flussdampfern zur Landung dienen. Der Leichnam trug keine Zeichen der Gewaltthat, und so war der Verstorbene also offenbar das Opfer eines Unglücksfalles, durch den sich die Behörden veranlasst sehen sollten, ihre Aufmerksamkeit auf den Zustand der Landungsstellen am Fluss zu lenken.“

      Stumm sassen wir beisammen, Holmes war niedergedrückter, als ich ihn je gesehen.

      „Das verletzt meinen Stolz, Watson,“ sagte er endlich. „Es mag ein kleinliches Gefühl sein — aber es verletzt meinen Stolz. Jetzt betrachte ich die Sache als meine persönliche Angelegenheit, und erhält mich Gott gesund, so soll mir diese Bande nicht entgehen. — Bei mir suchte er Hilfe, und ich — ich schicke ihn in den Tod!“ Er sprang auf und rannte erregt im Zimmer hin und her; seine fahlen Wangen waren gerötet, und mit nervösem Zucken öffneten und schlossen sich seine langen, schmalen Hände.

      „Das müssen verschmitzte Teufel sein!“ rief er endlich aus. „Wie vermochten sie ihn dort hinunter zu locken? Der Landungsplatz liegt nicht auf dem direkten Wege nach der Station. Gewiss war die Brücke, selbst in solcher Nacht, zu belebt für ihr Vorhaben. Aber, Watson, wir wollen sehen, wer von uns den kürzeren zieht. Ich gehe jetzt aus.“

      „Auf die Polizei?“

      „Nein. Ich will selbst meine Polizei sein. Die mag die Fliegen fangen, wenn ich das Netz gesponnen habe. Vorher nicht.“

      Den ganzen Tag hatte ich in meinem Beruf zu thun, und erst am späten Abend kam ich nach der Bakerstrasse zurück. Sherlock Holmes war noch nicht heimgekehrt. Kurz vor zehn trat er blass und müde ein. Er ging nach dem Büffet, brach ein Stück Brot ab, verschlang es gierig und spülte es mit einem Trunk Wasser hinunter.

      „Du bist hungrig,“ bemerkte ich.

      „Ganz ausgehungert. Ich habe noch gar nicht daran gedacht. Seit dem Frühstück habe ich nichts zu mir genommen.“

      „Nichts?“

      „Keinen Bissen. Mir fehlte die Zeit, daran zu denken.“

      „Und was hast du erreicht?“

      „Viel.“

      „Bist du den Spitzbuben auf der Spur?“

      „Ich halte die Kerle fest. Lange soll John Openshaw nicht auf Rache warten. Ihr eigenes Teufelszeichen wollen wir ihnen aufdrücken, Watson. Es ist gut ausgedacht!“

      „Was meinst du?“

      Er nahm eine Apfelsine aus dem Schrank, brach sie auseinander und drückte die Kerne heraus auf den Tisch. Fünf davon steckte er in einen Umschlag. Auf die Innenseite des Verschlusses schrieb er: ,S. H. für J. O.,‘ dann siegelte er und adressierte an: ,Kapitän James Calhoun, Barke ,Lone Star‘, Savannah. Georgia.‘ „Das soll ihn bei der Einfahrt in den Hafen erwarten,“ sagte er höhnisch. „Es mag ihm eine schlaflose Nacht bringen und wird ihm ein so sicherer Vorbote seines Geschickes sein, wie sein Brief für Openshaw gewesen ist.“

      „Wer ist dieser Kapitän Calhoun?“

      „Der Anführer der Rotte. Die anderen kriege ich nachher. Erst muss er dran.“

      „Wie kannst du ihm auf die Spur?“

      Holmes zog einen grossen Bogen aus der Tasche, der mit Namen und Daten bedeckt war.

      „Den ganzen Tag durchsuchte ich Akten und Register des Lloyd und folgte dem Kurs aller Schiffe, die im Januar und Februar 1883 Ponditscherri berührten. 36 Schiffe guter Löschung liefen während dieser Monate dort ein; unter diesen fesselte eines, der ,Lone Star‘, sofort meine Aufmerksamkeit. Nach dem Bericht wäre es nämlich von London ausgelaufen, während es in Wirklichkeit von einem amerikanischen Staate kommt.“

      „Wahrscheinlich aus Texas.“

      „Ich bin dessen nicht sicher, so viel aber steht fest, dass das schiff amerikanischer Herkunft sein muss.“

      „Was weiter?“

      „Ich forschte dann in den Berichten von Dundee nach, und als ich fand, dass der ,Lone Star‘ im Januar 1885 dort lag, wurde mein Verdacht zur Gewissheit. Ich erkundigte mich nach den Schiffen, die jetzt im Hafen von London sind. Der ,Lone Star‘ war vorige Woche hier angekommen. — Ich ging nach dem Albert-Dock und erfuht, das Schiff sei mit der Morgenflut ausgelaufen und auf dem Heimweg nach Savannah begriffen. Ich telegraphierte


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