Gemeinsame Sprache. Jürg Halter

Gemeinsame Sprache - Jürg Halter


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      Für Unnachgeborene

      Es gibt kein reines Wasser mehr,

      atmen fällt nicht leichter,

      es wird nicht mehr kälter,

      Mobilität kennt kein Weniger,

      Gletscher wachsen nimmer,

      Das haben wir uns verdient.

      Wir sind gute Menschen.

      Meeresspiegel senken sich nicht,

      Böden verdauen kein Gift ohne Unterlass.

      Das Endlager für all unseren Müll

      werden wir niemals finden und wenn,

      wird’s unverschämt klein sein.

      Das haben wir uns verdient.

      Wir sind gute Menschen.

      Leisten uns den Luxus zu verzichten

      und unter Applaus darüber zu sprechen.

      Doch heißt Verzichten nicht,

      dass wir auf irgendetwas verzichten müssen.

      Die Grundbedürfnisse mehren sich,

      sind niemals zu befriedigen.

      Wir schaffen das.

      Viele von uns noch unversehrt von Kriegen,

      wenige unberührt von Erzählungen darüber.

      Wir verdienen nichts als Wachstum,

      das uns nachhaltig vernichten wird.

      Immerhin wird die Erde für uns tröstlich

      langsam unbelebbar – definiere Hoffnung.

      Wir schaffen das.

      Können bis zuletzt vom Glauben zehren,

      dass wir etwas hätten dagegen tun können.

      Selbstbestimmt leben und sterben,

      selbstbestimmt tot sein,

      wer’s glaubt, wird selig.

      Wir sind gute Menschen.

      Wir schaffen das.

      Die einzig wirklich relevante Frage

      auf globalen Podien aber bleibt:

      Wer kommt für die Kosten

      der nicht enden wollenden

      Selbstzerstörung auf?

      Lasst uns drüber schlafen.

      Wir schaffen das.

      Die Schatten unserer Hände kreisen

      über weißem Papier.

      Im Namen des heiligen Nichts

      verschweigen wir dieses Gedicht.

      Da fallen Steine von unseren Herzen.

      Weltgeschehenmüde heben wir sie

      gegen die Sonne: Bernsteine!

      In jedem von ihnen schläft ein Mensch.

      Die Zukunft wird zur Trauer um etwas,

      das nicht mehr ist.

      Wir sind gute Menschen.

      Wir schaffen das.

      Überlassen unser Haus nicht kampflos

      den Ratten, die zuerst wir selber sind.

      Lasst uns jetzt der Blumen gedenken,

      die nach uns blühen werden,

      den neuen Blumen,

      die wir nicht mehr sehen,

      nicht mehr riechen können.

      Lasst uns der Welt nach uns gedenken,

      die uns zu Füßen liegen wird wie keine davor.

      Dieses Gedicht soll an Gedichte erinnern,

      auf die längst kein Auge mehr trifft.

      Dieses Gedicht soll sich ausmalen,

      wann es selbst vergessen sein wird.

      Dieses Gedicht soll dir sagen, wie du dich gerade fühlst,

      ohne es auszusprechen – erinnerst du dich?

      Bin außer mir, mein Gedächtnis: eine geplünderte Burg,

      ich als Geist darin lebend – oder als Geisterjäger

      vor dem Kamin, nach erfolgloser Jagd

      meine Hände wärmend.

      Im Licht des Feuers flackern, gemalt in Öl,

      die Gesichter meiner Vorfahren auf,

      gehängt in einem weitläufigen Saal,

      durch den ich mit einem Becher Wein schreite,

      mit ihnen so lange Zwiesprache haltend,

      bis ich filmreif in der Gegenwart ankomme

      und auf einen Balkon trete:

      Im Licht einer elektrischen Straßenlampe

      schwirren zahllose Mücken ihrem Tod entgegen,

      am Himmel glaube ich Glänzendes zu sehen.

      Ich kneife die Augen zusammen, vermag jedoch weder die aus dem Dienst entlassenen Satelliten und Raumsonden noch deren zusammenprallende Teile zu erkennen. Diese Artefakte in der Erdumlaufbahn werden dereinst nicht mehr über mich erzählen, als dass ich im Jahre 2019 staunend hier, im Schatten einer Burgruine gestanden haben werde und erschüttert dachte: All die Vorfahren in mir, ich könnte platzen!

      Steige hoch zu dir,

      der du eine mir

      über den Kopf

      gewachsene Idee

      eines Anderen bist –

      oben angekommen,

      stecke ich eine

      Stange in die Luft,

      daran ein Fähnchen,

      das mein Gehirn

      im Profil zeigt;

      in alle Richtungen

      verweht.

      Allen Planeten haben wir unsere Namen gegeben.

      Sprache greift sehr weit in den Raum,

      das ist, was gesagt werden kann.

      Doch verstehen wir uns selbst

      nicht mal bis zur Nasenspitze;

      wenig drunter schnalzen unsere Zungen

      in der Unendlichkeit nach einem Quäntchen Resonanz,

      sprechen leise zweifelnd unsere Namen aus.

      Was könnte ich nun tun?

      Wie bring ich’s zustande?

      Wie lange soll es dann halten?

      Über welche Dimensionen denke ich nach?

      Und wenn es schiefläuft?

      »Die Fragwürdigkeit des Menschen ist unantastbar.« Dexter & Retrogott

      Das


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