TEXT + KRITIK 229 -Thomas Hürlimann. Группа авторов

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der poetologische Schlüssel der Sammlung: Nachdem die körperlichen Verfallsprozesse der Protagonistin akribisch beschrieben wurden – ebenso die Anteilnahme ihres Mannes, die Versuche des Arztes, ihre Schmerzen zu lindern, und das spöttische Gerede einer auch hier feindlichen Dorfgemeinschaft –, wird eine räsonierende Passage eingeschoben. Darin heißt es: »Wer in einem Sterbehaus an einem Sterbebett jemals gesessen hat, weiß, daß unsere Uhrzeit ihre selbstverständliche Gültigkeit verlieren kann. Wer in einem Sterbehaus an einem Sterbebett sitzt, (…) der erfährt, ob er nun der Euteler Lehrer sei am Bett seiner Frau oder ich am Bett meines Bruders (worüber ich schreiben wollte und nicht schreiben kann), daß ein sterbender Mensch einem fremd wird, weil er Stille erzeugt.« (S. 129)

      In der Passage wird weiter ausgeführt, wie der Sterbeprozess den Dabeisitzenden in seinen Bann zieht, dass dieser die Situation aber auch immer wieder fliehen will: »(M)an halte, denkt man, diese Stille nicht aus, will schreien, etwas tun, vom Sterben und dem Tod nichts wissen.« (S. 130)

      Verschränkte Sterbeszenen

      In dieser Schilderung der Gefühle und Gedanken in Anbetracht des Sterbeprozesses verschränken sich die Erinnerungspassagen der Erzählungen mit den Erlebnissen und dem Schreiben nach dem Tod des Bruders: In der Rede vom zeitlichen Vakuum des Sterbehauses hallt die mystische Entrückung des Jugendlichen in der Klosterkirche nach. Auf die Alkoholexzesse, mit denen sich der Protagonist nach den Krankenhausbesuchen zu erden versucht, antwortet das spätere Trinken in Kreuzberg. Die Figur des ›Doktors‹, dessen Reden der Protagonist für seinen sterbenden Bruder erfand, um ihn abzulenken, tritt ihm dort wieder gegenüber.

      Der ›Doktor‹ ist somit zugleich ein unheimlicher Wiedergänger aus dem Krankenhaus und der imaginäre Stichwortgeber eines literarischen Initiationsprozesses: Vor dem Tod des Bruders hatte der Protagonist die Gespräche mit dem ›Doktor‹ erfunden, um den Sterbenden und sich selbst von der Krankenhaussituation zu entlasten. Nach dessen Tod taucht die Figur auf, wenn der Erzähler dieses Sterben umkreist, über das er eigentlich »schreiben wollte und nicht schreiben kann«: Aus der Erlebnisperspektive des Protagonisten wird die Schreibperspektive des Erzählers.

      Ganz unrecht hat der Bruder dennoch nicht: Zwar wird Hürlimann ein sprachlich versiertes und thematisch komplexes Werk gelingen. Dass der Bruder dem Protagonisten vorwirft, er könne nur »nachbeten«, nicht aber »erfinden«, ist dennoch interessant: Zumindest die längeren Prosatexte Hürlimanns werden sich weiterhin alle um die eigene Familiengeschichte drehen. Sie kommen auch mehrfach auf den Tod des Bruders zurück. So zeichnet die Novelle »Das Gartenhaus« (1989) Trauerrituale der Eltern nach, die im Verlauf des Textes geradezu groteske Züge annehmen. Ebenfalls ist der Tod des Bruders in »Der grosse Kater« ein wichtiges Motiv.

      Gerade im Hinblick auf die Art und Weise des schriftstellerischen Umgangs mit dieser Familienbiografie ist dieser erste Erzählband aber auch insofern wegweisend, als Hürlimann sich nicht nach der Unterscheidung richtet, die der Bruder trifft. Er entwirft vielmehr mit der Kopplung der autobiografischen Geschichten und der Erzählung über die sterbende »Tessinerin« bereits hier das Programm einer dezidierten Verschränkung von autobiografischem und fiktivem Erzählen: So selten sich der Erzähler Hürlimann von der eigenen Familiengeschichte lösen wird, so wenig verpflichtet er sich jemals zu einer buchstäblich zu verstehenden Rekonstruktion.

      Die Anfangspassage als poetologische Parabel

      Vor dem so skizzierten Hintergrund wird die Parabel aus der ersten Geschichte, »Begegnung«, poetologisch neu lesbar. In ihr wurden drei Arten des Berggehens unterschieden: der genau berechnete, da kräfteraubende Aufstieg auf die Bergspitze, der gemessene Schritt des Wanderers und das Herumrasen des Wahnsinnigen. Zu Beginn entsteht wie erwähnt der Eindruck, dass der Ich-Erzähler am ehesten dem Bild des Irrsinnigen entspricht. Tatsächlich aber scheint sich Hürlimanns Erzählen zwischen allen drei Typen aufzuspannen.

      Der Bewegung des Wanderers, der die schweißtreibende Anstrengung scheut, kommt der behende, flüssige Stil von Hürlimanns Prosa nahe: In der Rekapitulation von Familienroutinen folgt sie einem gemessen-ruhigen Habitus, der in späteren Prosaarbeiten, etwa dem Roman »Vierzig Rosen«, vor allem mit der Contenance der wohlerzogenen Mutter in Verbindung gebracht wird.

      Nach dem Erklimmen des Bergs bleibt jedoch, wie es an der Stelle heißt, »nur die Umkehr übrig oder der Tod« (S. 7): Die Gipfelstürmerei erscheint, wie der Karrierismus des Vaters in »Der grosse Kater«, als Kompensationshandlung. In den Trauerritualen, von denen die Novelle »Das Gartenhaus« erzählt, erweisen sich sowohl die mütterliche Contenance als auch der väterliche Zug ins repräsentable Ganze als unzulänglich, manchmal gar als hilflos. Und schon in der Parabel aus dem ersten Erzählband sind die erzählerische Sensibilität und der Wille zur konzeptionellen Strenge mit einem dritten Typus verbunden, der solcher Unzulänglichkeit Rechnung zu tragen vermag: dem latenten Wahnsinn des Herumrasenden.

      Hürlimanns Erzählen zeugt, allem Faible für das Gemessene und Geordnete zum Trotz, von einer chaotischen Bereitschaft zur Überforderung. Davon, dass solche Raserei nicht notwendig ganz und gar verzweifelt sein muss, legt das über 500 Seiten gut gelaunt tumultende und mäandrierende Exzess-Stück seines Romans »Heimkehr« von 2018 Zeugnis ab. Dieses Buch kann auch jenseits aller inhaltlichen Bezüge als Selbstporträt des Literaten Hürlimann gelten: Auch unter dem gesetzten Schreibhabitus der biografisch inspirierten Bücher der 1990er und 2000er Jahren schwelte demnach jene Unruhe und Brüchigkeit, durch die gezeichnet ein wankender und taumelnder Erzähler schon den ersten Erzählband eröffnete.


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