TEXT + KRITIK 229 -Thomas Hürlimann. Группа авторов
— 4 So heißt es in »Schweizerreise in einem Ford« zwischendurch plötzlich unvermittelt: »Diesen Satz sagte ich gestern nacht (sic!) zum Doktor. Ich war durch die südöstlichen Quartiere gezogen und hatte ihn in einem Keller angetroffen.« (S. 27). — 5 In vielen Interviews mit Hürlimann fällt ein Verweis auf das (frühere und danach wieder gelegentliche) Berliner Domizil. — 6 In der Eröffnungsgeschichte in der Kreuzberger Kneipe »pöpperlete« (S. 12) etwa ein Gast mit seinen Fingern ans Glas, einem anderen »lampt« (S. 13) die Zigarette aus dem Mund. — 7 Die Theaterstücke sind teils auf einen allgemeinen deutschsprachigen, teils dialektal auf einen schweizerisch-regionalen Aufführungszusammenhang hin konzipiert. Im Film »Der Berg« (1990), zu dem Hürlimann mit dem Regisseur Markus Imhoof das Drehbuch schrieb, markiert die Grenze zwischen Dialekt und Hochsprache die Positionen im Zwist der beiden männlichen Kontrahenten. — 8 Anders als etwa Jeremias Gotthelf oder der späte Robert Walser. Allgemein zum Verhältnis von Dialekt und Hochsprache in deutschschweizerischer Literatur vgl. die Bände von Heiner Löffler (Hg.): »Das Deutsch der Schweizer: Zur Sprach- und Literatursituation der Schweiz«, Aarau 1986; sowie Simon Aeberhard / Caspar Battegay / Stefanie Leuenberger (Hg.): »dialÄktik. Deutschschweizer Literatur zwischen Mundart und Hochsprache«, Zürich 2014. — 9 Meinrad Inglin: »Der schwarze Tanner und andere Erzählungen«, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Thomas Hürlimann, Zürich 1985; Gottfried Keller: »Das große Lesebuch«, hg. von Thomas Hürlimann, Frankfurt/M. 2019. — 10 Erschienen als: »Die Tessinerin. Eine Erzählung«, Zürich 1996. — 11 Vgl. u. a. den Text »Schreiben«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 7.10.2006, unddas Interview von Sieglinde Geisel: »Der Tod, die Erinnerung und der Stil«, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 10.2.2014. — 12 Für innerfamiliäre Verwerfungen sorgte bereits das Stück »Großvater und Halbbruder« (1981), das opportunistisches Verhalten des St. Galler Großbürgertums während des Zweiten Weltkriegs anprangerte, vgl. Charlotte Schallié: »Par distance und aus der Enkelperspektive. Thomas Hürlimanns entstellte Schweiz«, in: Jürgen Barkhoff / Valerie Heffernan (Hg.): »Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur«, Tübingen 2010, S. 215–229, hier S. 224. Und nach dem Erscheinen von »Fräulein Stark« tat sich Hürlimanns Onkel, dort Nebenfigur, mit einer Gegendarstellung hervor, vgl. Johannes Duft: »Bemerkungen und Berichtigungen zum Buch ›Fräulein Stark‹ von Thomas Hürlimann«, St. Gallen 2001. — 13 Dass die Familiengeschichte künstlerisch frei bearbeitet wird, macht besonders die erzählerische Innenschau längst verstorbener Urahnen deutlich (so etwa in der Geschichte des Urgroßvaters in »Vierzig Rosen«). — 14 Hürlimann äußerte sich in den vergangenen Jahrzehnten vielfach in Zeitungsbeiträgen und Interviews aus konservativer Warte zu gesellschaftlichen Themen. Einen breiten Einblick in seine politischen Überlegungen gibt das ausführliche Interview des Fernsehformats »NZZ Standpunkte« (SF 1 / 3sat, Erstausstrahlung: 1.8.2010).
Jürgen Barkhoff
Die Katze als philosophisches und poetologisches Tier
Thomas Hürlimanns Wappentier ist die Katze. Katzen durchstromern sein literarisches und essayistisches Werk, und sie sind dabei weit mehr als Motiv-, Metaphern- oder Symbolträger. »Der Kater ist aus der Spiegelgasse zu uns gekommen«,1 heißt es in Hürlimanns Opus Magnum »Heimkehr« über Dada, den sprechenden Kater, der »aus dem nahegelegenen Cabaret Voltaire entlaufen«2 ist und zum Alter Ego, »Consigliere«,3 also Ratgeber, und Seelenführer des Protagonisten und verhinderten Schriftstellers Heinrich Übel wird. Diese autoreflexive Spiegelfunktion gilt in Variationen für sämtliche Katzen, die auf samtenen Pfoten klug und instinktsicher und zugleich unberechenbar und widerspenstig durch Hürlimanns Texte tigern. »Obwohl sie friedlich mit uns leben, haben sich Katzen ihre Nachtseite bewahrt. (…) Ich habe eine Katzenseele.«4 So bekennt sich der Autor zum hohen Identifikationspotenzial der felinen Spezies für ihn. Katzen sind in seinem Werk zentrale Akteure, die die Handlung an Schlüsselstellen beeinflussen und in denen sich die grundsätzlichsten biografischen, philosophischen und poetologischen Fragen des Hürlimann’schen Lebens und Schreibensverkörpern. Sie sind geschmeidig-präsente und sich zugleich verweigernd-entziehende Grenzgänger zwischen Biografie und Literatur, zwischen Instinkt und Geist, zwischen Tierreich und Menschenwelt, ja zwischen Leben und Tod, zwischen Diesseits und Jenseits. Sie sind menschenaffin und als »philosophische Tiere«5 im Sinne Nietzsches und als »Borderliner der Transzendenz«6 Lehrmeister des Menschen und des Künstlers Thomas Hürlimann. Sein Werk präsentiert eine in ihrer Vielschichtigkeit und Prägnanz außergewöhnliche und weitreichende Verhandlung von Mensch-Tier-Beziehungen. Roland Borgards, die wichtigste Stimme der Cultural Animal Studies im deutschsprachigen Raum, fragt, »welcher konstitutive Anteil den Tieren an der Literaturproduktion des Menschen zuerkannt werden kann«.7 Thomas Hürlimann gibt darauf eine faszinierende Antwort.
Die erste Hürlimann’sche Katze taucht auf dem Friedhof auf, und die vorerst letzte saust bekifft als Chevy-Chauffeur Heinrich Übels wie ein aus der Spur gelaufener Charon »(a)uf die andere Seite, Herr Doktor, vom Tod ins Leben!«8 – oder vielleicht auch umgekehrt, denn um das Offenhalten dieser Frage kreist der ganze Roman. In der frühen Meisternovelle »Das Gartenhaus« kommt das »Verhängnis«,9 sprich die Handlung in Gang, als beim täglichen Friedhofsbesuch sich die Frau verabschiedet und statt ihrer hinter dem Grabstein des toten Sohnes eine Katze auftaucht, »knochig, zittrig«, den Mann »mit großen Augen« fixierend.10 Das Überleben dieses zugleich bedrohten wie zähen Tieres macht der Oberst, der das Sterben seines Sohnes nicht verhindern konnte, fortan zu seinem Lebensmittelpunkt. Hierzu mobilisiert er militärische Erfahrung und den Instinkt des erfahrenen Troupiers, was seine Frau, je mehr ihm die Friedhofskatze »an sein altes, müdes Herz« wächst,11 als Verrat an ihr, dem verlorenen Sohn und der verweigerten gemeinsamen Trauer erfährt. In Interviews hat Thomas Hürlimann die enge Verbindung dieser fiktionalen Konstellation zu seiner Biografie betont. »Die Katze ist in die Geschichte hineingeschlichen, genau wie sie beschrieben ist (…). Es war Dämmerung, ihre Augen leuchteten. Ich wusste nicht, was für ein Tier das war. Es grub etwas aus. Dann sah ich, dass es eine Katze war.«12 Damit steht das Auftauchen dieser individualistischen Tiere, die neugierig Verstecktes ausbuddeln und mit ihren vermeintlich sieben Leben dem Tode trotzen, in unmittelbarem Zusammenhang zu dem Ursprungstrauma des Hürlimann’schen Schreibens, dem Krebstod des 20-jährigen Bruders Matthias im Jahr 1979, an dessen Grab auf dem Friedhof in Zug die Katze dem Autor begegnete. Katzen umkreisen die großen Themen des Hürlimann’schen Werkes, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Leben und Tod, den Kampf gegen die Vergänglichkeit,