Tanz der Zwerge. Anne Marie Løn

Tanz der Zwerge - Anne Marie Løn


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      Doch ich freute mich – gemeinsam mit meiner Mutter und meinen zu Hause wohnenden Schwestern – während der gesamten, über das Wasser führenden Fahrt nach Willhofsgave darüber, dass mein Vater in seinem hohen Alter mit verblüffender Vitalität seine philosophischen Studien wieder aufnahm. Die Werke seines Jugendfreunds Harald Høffding über die Einheit und Kontinuität des Bewusstseins wurden im Lichte der neuen Situation repetiert und bearbeitet. Besonderes Gewicht lag auf dem psychophysischen Parallelismus, den er schon in ganz jungen Jahren mit Høffding zusammen bei Spinoza studiert hatte und der ihn zu Beginn der neunziger Jahre, als ich ein Säugling war, erneut beschäftigte. Aus den heimischen Bulletins lernte ich, dass der alte Mann immer noch nicht immun war gegen das Allheilmittel, sich in philosophische oder literarische Dinge zu vertiefen, um Licht in das Dunkel zu bringen.

      Obwohl ich meinem Vater immer wieder beteuert habe, mein Talent ganz und gar ausgeschöpft zu haben, wird er insgeheim bis ans Ende seines Lebens über die Kollision meiner Behinderung mit meinen Karrierechancen nachgrübeln und zu der Ansicht neigen, die Behinderung hätte diese beeinträchtigt. Natürlich hat es eine Kollision gegeben, doch ich finde es sinnlos, mich mit Mutmaßungen abzuplagen, welche Teile meiner Persönlichkeit anderen Teilen eventuell im Weg gestanden haben könnten.

      Ich halte mich an einen interessanten Gedanken von Grundtvig über Körper und Geist, der mir manchmal in den Sinn kommt, obwohl mein Vater alles, was von diesem Mann stammt, als «unwissenschaftliches Geschwätz» bezeichnet: «Vielleicht war er ein Dichter; ein Denker war er jedenfalls nicht. In diesem Herrn steckte zu viel Materie und zu wenig Geist.»

      Betreten habe ich gehört, wie er viele von Grundtvigs Kirchenliedern ohne den Respekt und die Großherzigkeit zerpflückt hat, die ihn sonst auszeichnen und die er seinen Kindern so erfolgreich vermittelt hat. So einen Quatsch, sagt er, hat man in Dänemark nie zuvor gehört, zum Beispiel, dass der Bauer vom Licht der Aufklärung durchdrungen sei, weil er gemeinsam mit der Sonne aufstehe, und dass der Bauerntrampel im Gegensatz zum Gelehrten einen Geist wie das Nordlicht habe.

      Ich finde, Estrups phantasielose Kabinettspolitik passt einfach nicht zu meinem Vater. Dennoch war er über viele Jahre ein eingefleischter Estrup-Anhänger und teilte dessen Standpunkt, das allgemeine Wahlrecht sei eine Torheit. Von meinem Urgroßvater weiß ich genug, um mir vorstellen zu können, dass er sich im Grab herumdrehen würde, wenn ihm diese Anschauung des dritten Erbhofbesitzers zu Ohren käme. Auch mein Großvater wäre nicht gerade stolz auf den politischen Sinneswandel seines Sohnes.

      Ich sehe meinen Vater das Gesangbuch mit allen Zeichen der Missbilligung zuschlagen und den Vorgängen um ihn herum den Rücken zukehren, wenn in der heimischen Kirche Grundtvig gesungen wird. Er wendet sich also, um es einmal so auszudrücken, ziemlich oft ab.

      Dass mein Geschlecht sich über vier Generationen auf Willhofsgave halten konnte, beruht auf einer ausgewogenen Mischung von Geist und Materie. In meiner Generation hat, wie ich finde, der Geist überhand genommen. So wie ich meine Ahnen durch Studien und die Privatdokumente des Gutshofs kennen gelernt habe, wären sie darin völlig einer Meinung mit mir.

      Für meinen Vater spricht, dass er sich sein ganzes Leben lang, zuerst als junger Hoferbe und später als Erbhofbesitzer, in die Enge getrieben fühlte und stellvertretend für die Familie um den Besitz des Gutes fürchten musste. Das ist keine Vermutung, sondern eine Tatsache.

      4

      «Hättest du dir nicht eine schöne Pfarrkirche in Kopenhagen aussuchen können, Tyge?»

      Das fragte meine Mutter zu Hause während der Weihnachtsferien. Ich hatte soeben eine schriftliche Zusage der Kopenhagener Friedhofsverwaltung erhalten, die ab dem 1. Januar 1921 unabhängige Organisten- und Kantoratsstellen eingerichtet und auf einen Schlag zehn Organisten eingestellt hatte. Constance hatte mich auf ihr Zimmer gerufen – das war, bevor das Gesicht meines Vaters wieder Farbe angenommen hatte.

      «Ich habe das Amt mit dem größten Arbeitspensum und der besten Bezahlung gewählt, liebe Mutter.»

      Das war die schonendste Antwort gewesen, die ich ihr hatte geben können. Dennoch rang sie nach Atem und griff sich an den Hals. Über Geld oder über Arbeit um der Arbeit willen zu sprechen, stellt in meiner Familie eine gewaltige Provokation dar; alles soll einem höheren Ziel dienen und sich über das materielle Gewinnstreben erheben.

      Ich ersparte ihr den Hinweis, dass ein Kirchenvorstand kaum einen Zwerg anstellen würde, wenn es sich vermeiden ließe. In Kirchenkreisen ist man überhaupt empfindlich gegenüber Abweichungen jeder Art. Selbst ein unbestreitbares musikalisches Talent wie Rued Langgaard, Sohn des Königlichen Kammermusikus und Komponisten Siegfried Langgaard und der Pianistin Emma Langgaard, den ich von verschiedensten Anlässen her kenne, scheitert jedes Mal, wenn er sich um eine freie Organistenstelle bewirbt.

      Er ist ein ungehobelter Kerl – obwohl dies doch nichts im Vergleich zum Auftreten eines Zwergs ist – und kann einen regelrecht uncharmanten, geradezu abstoßenden Eindruck machen, sofern man ihn nicht näher kennt. Ich habe sogar gehört, dass ihm erst kürzlich eine Stellvertretung verweigert worden ist – eine Form der Berufsausübung, an der ich immer viel Freude gehabt habe. Er schlägt sich so durch, obwohl seine Eltern zu den führenden Persönlichkeiten der musikalischen Welt zählen. Er war so unvorsichtig, die Musik Carl Nielsens als «ordinären Humbug» zu bezeichnen; so etwas tut man nicht ungestraft. Außerdem wird ihm nachgesagt, er habe Beethoven einen Rüpel am Klavier genannt und zu Brahms’ Musik geäußert, sie stinke nach Bier und Zigarren. Auf eigene Rechnung möchte ich hinzufügen: und nach Frauen; ich halte sehr viel von Brahms.

      Hätte ich eine Wahl gehabt, will ich nicht ausschließen, dass ich meine jetzige Stelle möglicherweise aus genau den Gründen angetreten hätte, die ich meiner Mutter angab: Zeit und Geld. Ledige haben mehr Zeit als Verheiratete. Und ein lediger Zwerg hat unvergleichlich mehr Zeit als ein lediger Nicht-Zwerg.

      Außerdem – wie ich es auch drehe und wende – gehören Geld und Freizeit in meinen Augen zusammen. Ich kann nicht von der Tatsache absehen, dass mein Unterhalt, der Spezialanfertigungen von Kopf bis Fuß erfordert, ziemlich kostspielig ist. Auf diesem einen Gebiet bin ich meiner guten Erziehung treu und achte sorgsam auf meine Gesundheit. Meine Eltern haben sich in dieser Hinsicht nicht lumpen lassen, obwohl sie dafür andere Entbehrungen in Kauf nehmen mussten, und auch ich lasse es an nichts fehlen: Massagen, Korsetts, Beinschienen, Zahnregulierung ... Alles in meinem Körper rumort und arbeitet, sodass die Hilfsmittel von Zeit zu Zeit gewartet und erneuert werden müssen. Es ist auch nicht unwesentlich, dass mir das Geld Gelegenheit gab, eine gewisse Eitelkeit hinsichtlich meiner Kleidung zu befriedigen. Gut gekleidet zu sein, ist eine wahre Wohltat für mich, und weil ich es genieße, kann auch, so glaube ich, mein äußeres Erscheinungsbild davon nur profitieren.

      Mehr Worte haben wir bei dieser Gelegenheit nicht gewechselt. Während meine Mutter sich wieder fasste, fiel mein Blick auf ihre Fotografien meiner Schwestern und meines ungewöhnlich hübschen Bruders, der ihr so ähnlich sieht, dass man ihn glatt für eine jüngere Ausgabe ihrer selbst halten könnte, wenn er sich den Schnurrbart abrasieren und eine Perücke aufsetzen würde. In den Schreibtischschubladen bewahrt sie auch viele Bilder von mir auf, doch an der Wand bin ich nur auf einem Familienfoto vertreten, das von ihrer silbernen Hochzeit stammt. In einem weißen Kleidchen mit zungenförmigem Kragen stehe ich, sechs Jahre alt, ganz dicht bei ihr. Mein Haarschopf reicht ihr gerade bis an die Hüfte.

      Meine Eitelkeit beschränkt sich für gewöhnlich auf Äußerlichkeiten; von der Eitelkeit des Herzens werde ich selten geplagt, obwohl ich in gewissen Momenten auch dafür empfänglich bin, so wie in diesem Fall. Deshalb ging ich vom Zimmer meiner Mutter sofort hinunter zu unserem alten Kindermädchen Vidde, um einmal mehr zu hören, wie sie ihre Freude und ihren Stolz über mich zum Ausdruck brachte.

      «Du wirst noch Domorganist, so wie Weyse», sagte sie mit strahlendem Gesicht, nachdem sie weit genug über ihre erste Begeisterung hinweggekommen war, um zu erkennen, dass es, offen gesagt, bedeutendere Organistenstellen gab als die bei der Friedhofsverwaltung.

      5

      Gibt es ein Paradies auf Erden, dann ist es Willhofsgave, mein Geburtsort. Einen


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