Tanz der Zwerge. Anne Marie Løn

Tanz der Zwerge - Anne Marie Løn


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keinen Platz; ich finde darin weder Jäger noch Mädchen.

      Und die anderen? Was die Männer in einem Augenblick erreicht zu haben glauben, verblasst kurz darauf im Sternennebel, und auf längere Sicht kenne ich die Antwort: nichts.

      Mir reichten sie ihre Hände, mich küssten sie und zogen mich in ihr Leben hinein. Dennoch blieb der impressionistische Eindruck einer hoch über mir schwebenden Ansammlung leuchtender Sterne. Wenn ich mich in ihrer Reichweite befinde, strahlt mich ihr Licht an, doch man kann es nicht erreichen, zu fassen bekommen und festhalten. Als Erwachsener habe ich begriffen, dass ich das Los all derer teile, die ihnen zu nahe kommen, und habe erkannt, dass der Weg von hier zu den Sternen stets unendlich weit ist, ob man nun ein oder zwei Meter groß ist. Der Panzer des Käfers auf dem Sockel der Freiheitsgöttin kann vom Sternenschein genauso erhellt werden wie der höchste Punkt ihres Scheitels. Will er mehr erreichen, kann er sich fortbewegen, was der Sockel, der Scheitel und die gesamte Göttin nicht können. Meine Möglichkeiten sind nicht geringer als die anderer, um «der weiblichen Sterne schmale Wolkenbahn» zu erreichen, als welche Manilius die Plejaden im 1. Jahrhundert vor Christus bezeichnete.

      In einem Buch über Astronomie habe ich gelesen: «Wir können offene Sternenhaufen nicht als Phänomene von Dauer betrachten. Ihre Sterne haben vermutlich denselben Ursprung, sind aber nur lose miteinander verbunden und werden sicherlich von der Anziehungskraft benachbarter Sterne beeinflusst, die dem Verbund nicht angehören. Außerdem könnte ein Stern des Haufens eine ausreichend hohe Geschwindigkeit entwickeln, um aus dem Verbund auszubrechen und sich von diesem zu lösen.»

      So eine hohe Geschwindigkeit hat keine meiner Schwestern je erreicht, was ich merkwürdig finde – ihr glänzendes Aussehen, die wohlgestalteten Glieder, Talent und Ausbildung sowie ihre Lieblichkeit in Betracht gezogen.

      Von den Umständen und Begebenheiten animiert, die meine Familie in den letzten Jahren geprägt haben, stimuliert von der Wahl, die ich selbst getroffen habe, und von den begrabenen Hoffnungen, richte ich mein bestes Prismenfernrohr auf meine Schwestern, in der Hoffnung, etwas zu sehen, was ich mit bloßem Auge nicht erkennen kann.

      Wenn ich ganz genau hinschaue, sehe ich mehr als einen Grund, warum es ihnen niemals wirklich gelungen ist, ihr gesamtes Potential an Hingabe auf einen einzigen Menschen des anderen Geschlechts zu richten. Ich erkenne ein Bündel von Ursachen dafür, dass sie ihre guten Eigenschaften niemals der Liebe in ihrer einfachsten und zugleich kompliziertesten Form widmen konnten. Dass sich Ellinor, deren Kopenhagener Wohnung sich ganz in der Nähe meiner Unterkunft befindet, zur Zeit an der Seite eines Herrn blicken lässt, kann ich als Gegenbeweis nicht ernst nehmen.

      Mehr als sonderbar kommt es mir vor, dass ich als einziges der neun Geschwister meinen ledigen Familienstand zutiefst bedaure. Ich allein scheine darauf zu brennen, die Anziehungskraft benachbarter Sterne zu spüren. Hätte ich nur ein Schneewittchen, würde ich ihm jeden Wunsch siebenfach von den Augen ablesen.

      Trotz der Abwesenheit roter Riesen bei den Plejaden gibt es doch einige sehr schwache rote Sterne, die man für echte «Sternenkinder» hält und die sich durch die Nebelstoffe ständig verdichten, aber die nuklearen «Feuer» sind immer noch nicht entzündet worden. Außerdem halten die Astronomen es für möglich, dass Zwerggestirne eines solaren Typus existieren, von denen man heute noch nichts weiß.

      Abgesehen von den undefinierbaren Gemeinsamkeiten, die womöglich auch die eigentlichen Charakterzüge meiner Schwestern enthalten und es nach wie vor geboten erscheinen lassen, sie als leuchtenden Sternenhaufen zu bezeichnen, sind sie äußerst verschieden.

      Von Kindheit an habe ich sie folgendermaßen wahrgenommen: Andrea, die Älteste, steht im Schatten der Zweitältesten: Ellinor. Die Zwillinge Ebba und Charlotte, Nummer drei und vier, sind wechselseitig von der Tatsache geprägt, dass Ebba zuerst geboren wurde. Edith, meine Lieblingsschwester, kam nach den Zwillingen zur Welt und ist ein Fall für sich. Franciska dominiert Gudrun, die Jüngste, auf raffinierte und liebevolle Weise.

      Als sich mir die musikalischen Bezeichnungen für Charakter und Tempo nach und nach einprägten – so, wie sie auf den Notenblättern meiner allerersten, kleinen Sonaten, die mein Vater mir gab, verzeichnet waren –, begann ich, meine Schwestern nach derselben Art zu klassifizieren. Lesen konnte ich sie nicht, lernte aber rasch, mir Aussehen und Bedeutung der Bezeichnungen einzuprägen, nachdem mein Vater mir diese erläutert hatte. Es sind die italienischen, die auch in Deutschland und im Norden benutzt werden. Sie haben mich also auch während meiner Studienzeit in Leipzig und auf dem Konservatorium der Schwedischen Musikakademie begleitet. Nur Frankreich benutzt eigene Bezeichnungen.

      Wenn es «grave» hieß, dann dachte ich daran, dass Andrea stets etwas schwermütig und ernst gewesen war, also spielte ich Andrea. Schnell, munter und lebhaft, das ist Ellinor, also «allegro». Sowohl Ebba als auch Charlotte strahlen Milde und Frieden aus; sie entsprechen «andantino» und «andante», denn Ebba ist ein bisschen aufgeweckter. Verlangt der Ausdruck Liebreiz und Anmut, dann spiele ich Edith oder auch «gentile» und «amoroso». Mein «marcato» wird genauso nachdrücklich, wie ich es brauche, wenn ich an Franciska denke, die in der Familie, als sie noch klein war, Franz gerufen wurde. Gudrun ist und bleibt «sordino».

      Wenn ich spiele, macht es keinen Unterschied, dass wir Charlotte und Edith verloren haben; in mir sind alle sieben gleich lebendig.

      9

      Ich bin der Sohn des dritten Erbhofbesitzers auf Willhofsgave, des Hofjägermeisters und Magisters der Politischen Wissenschaften Hans Helmuth Willhof-Holm und dessen Frau Constance, geborene Mühlenhausen. Meine Eltern haben 1872 geheiratet. Alle meine Geschwister, mit Ausnahme von Gudrun, die als letzte vor mir geboren wurde, kamen in Kopenhagen zur Welt.

      Meine Familie wohnte am Gamle Kongevej, und mein Vater war Abteilungsleiter der Landwirtschaftsbank, als ihn 1885 die Pflicht rief, den Erbhof von seinem Vater, dem zweiten Erbhofbesitzer Helmut Ludvig Willhof-Holm, zu übernehmen.

      Mit ihrem gesamten Hausstand, sechs Kindern, die bald sieben sein sollten, sowie dem Kindermädchen Melvilda Valentin brachen meine Eltern auf und ließen das Hauptstadtleben mitsamt der Arbeit, dem Familien- und Freundeskreis hinter sich, nachdem mein Großvater sie benachrichtigt hatte, dass die Zeit reif sei. Einige Monate später, als sie sich an ihr neues Leben auf dem abgelegenen Gut gewöhnt hatten, verschied der Alte ohne vorheriges Krankenlager während eines Mittagsschlafs.

      Vidde hatte von Beginn an gewusst, dass die Familie nicht für immer in der Hauptstadt bleiben würde, hatte sich aber nie vorstellen können, irgendwo anders als in Kopenhagen zu wohnen. Als Nyboder Kind war sie klassenbewusst und heimatverbunden. Als die Zeit gekommen war, hatten die Umstände ihr die Entscheidung abgenommen. Es schien ihr völlig unvorstellbar, einen anderen Entschluss zu fassen, als den mitzukommen. Außerdem war es ihr unbegreiflich, wie die Herrschaften – Madame auch noch hochschwanger – auf der Reise die Kinder von zwei, fünf, zweimal sechs, acht und elf Jahren in den Griff bekommen sollten.

      Die Fahrt mit dem Dampfschiff von Kopenhagen nach Jütland war für sie und die Kinder wie eine Odyssee ans Ende der Welt. Wohlbehalten angekommen, fühlte sie sich weiter von der Zivilisation entfernt, als ein Mensch sich ihrer Auffassung nach jemals träumen lassen konnte. Dunkelheit und Stille ließen sie in der ersten Zeit aus dem Bett aufschrecken. Es kam ihr vor, als wäre sie lebendig begraben. Sie sehnte sich nach den Lichtern der Stadt, vor allem aber nach der trüben Gaslaterne in der heimischen Hjertensfrydgade. Die vielen Jahre, die sie dort verbracht hatte, schienen ihr Leben gerade in Zeiten der Sehnsucht bislang zusammengehalten zu haben.

      In all dem Trubel des Packens, bei dem ständig entschieden werden musste, welche Möbel aufs Schiff und welche ins Lager sollten, während gleichzeitig der Haushalt weitergeführt und die Kinder versorgt werden mussten, hatte sie keine Zeit zum Nachdenken gefunden. Später kam ihr die Möglichkeit in den Sinn, nach Kopenhagen zurückzukehren und sich eine andere Anstellung zu suchen. Doch sie hätte nur ungern den Status aufs Spiel gesetzt, den sie sich in 14 Jahren bei Willhof-Holms erworben hatte. Außerdem brachte sie es nicht übers Herz, die Kinder oder die Hofjägermeisterin im Stich zu lassen.

      Der Einzug der jungen, kinderreichen Familie samt ihrem bereits damals dominierenden Kindermädchen auf dem Gutshof


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