Tanz der Zwerge. Anne Marie Løn
als die Verfassung vom Juni 1849 das Erbhofsystem als Form des Grundbesitzes nicht mehr akzeptieren wollte und die Gründung neuer Erbhöfe untersagte.
Wie all seine Standesgenossen sah auch mein Vater durch die Verfassungsänderung ein Unheil herannahen. Die Abschaffung des Lehnswesens vor drei Jahren war der Donnerschlag, der den drohenden Wolken folgte, und es kam genau so, wie Großvater es vorausgesehen hatte: Der dritte Erbgutbesitzer, also sein Sohn, musste im hohen Alter alle verwaltungstechnischen und ökonomischen Kniffe anwenden, um Willhofsgave als Erbgut zu bewahren.
Als junger Besitzer eines Erbguts wusste mein Vater natürlich, dass er, wie der Titan Atlas, einem gestürzten Göttergeschlecht angehörte. Vielleicht hatte er gehofft, das Lehnswesen würde abgeschafft, noch bevor er an der Reihe wäre, den Erbhof weiterzuführen. Jedenfalls bin ich sicher, dass er mit seinen lebenslangen philosophischen und sprachlichen Studien gleichsam versuchte, sich mit einer Schutzhülle zu umgeben, die den Schmerz des Schlages lindern sollte, der ihn eines Tages treffen würde. Derart vorbereitet, erschütterte es ihn dennoch, als das Gesetz ihn vor die Wahl stellte, eine einmalige Summe zu entrichten, die er nicht besaß, oder das Erbgut unter Zahlung aller Steuern und Abgaben weiterzuführen, deren Umfang in keinem Verhältnis zu den Erträgen stand, die der magere Boden abwarf.
Die meisten Erbhofbesitzer gaben die unveräußerliche Form des Grundbesitzes auf, sobald das Gesetz 1919 in Kraft getreten war, bezahlten für die Privilegien, die andere über Jahrhunderte genossen hatten, die vorgeschriebene Summe in die Staatskasse und ließen das Gut in freien Familienbesitz übergehen. Mein Vater hielt als einer der letzten stand. Es hätte uns die Kleinigkeit von 200 000 Kronen gekostet, den Erbhofstatus für das junge Gut Wilhofsgave aufheben zu lassen.
«So viel Geld habe ich nicht, und mir fehlt der Wille, es zu beschaffen», pflegt er zu sagen.
Jedesmal, wenn meine Eltern und Schwestern in der Zeitung lesen, dieser oder jener Erbhof sei in fremde Hände übergegangen, trifft es sie, als handele es sich um einen Todesfall. Wenn ein entrechteter Erbgutbesitzer sich rasch dazu entschließt, das Gut oder zumindest Ländereien an die umliegenden Höfe zu verkaufen, fühlt sich mein Vater wie der ohnmächtige Zuschauer einer Entweihung.
Meine «Grave»-Schwester Andrea, die sonst ihren Mund nicht aufkriegt, war – obwohl darauf gefasst – so schockiert von der Abschaffung des Lehnswesens, dass sie beinahe ihr Stottern, unter dem sie phasenweise sehr gelitten hatte, überwand und zu flüssiger Rede überging:
«Es ist eine Tragödie, dass man Grund und Boden auf diese Weise zu einer simplen Handelsware macht – wie einen Ballen Stoff oder ein Pfund Butter», sagte sie erregt und presste ihr Taschentuch, das wie eine Kugel in ihrer Hand lag, zusammen. Dort hat es gelegen, solange ich denken kann, vielleicht schläft sie sogar damit. Als Kind habe ich mich gefragt, ob sie sich womöglich mit einer Hand wusch, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie es zu diesem Zweck aus der Hand legte.
Ich bemerkte es zum ersten Mal, als sie mich hochhob und die Fingerknöchel der geballten Faust sich in mein Fleisch bohrten, was einen Schmerz unter meinem einen Arm verursachte, während sich unter dem anderen ihre flache Hand befand. Das ließ mich schreien und den Kopf schütteln, wenn sie mich hochheben wollte, was meine Familie zu weitschweifigen Erklärungsversuchen veranlasste, bis ich selbst die Ursache für den Schmerz entdeckte. Ich nahm die Hand der armen Andrea, bog nach und nach ihre Finger auseinander, schnappte mir die weiße Kugel, warf sie auf den Boden und glättete ihre feuchte Handfläche mit meinen beiden Händen, damit jeder begriff, dass mein Widerstand eine einfache physische Ursache hatte. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten Andrea und ich uns bereits entfremdet.
Im Sternenhaufen ist Andrea die variable Pleïone, die man gerade noch mit bloßem Auge erahnen kann, ein so genannter veränderlicher Stern, der instabil ist. Manchmal lässt sein Spektrum erkennen, dass er eine gasartige Hülle produziert, sodass er vorübergehend aufleuchtet, bis sich die Hülle wieder aufgelöst hat.
Von Vidde weiß ich, dass Andrea zu stottern begann, als sie nach Jütland zogen, und Mutter sie geschlagen hat, damit sie wieder normal redete. Nachdem das Kindermädchen eine Zeit lang beobachtet hatte, dass Schläge nichts nutzten, legte es seiner Herrin nahe, es lieber bleiben zu lassen. «Sie stottert zwar auf Dänisch, aber vielleicht wird es ja besser, wenn sie bald ein richtiges Fräulein wird und andere Sprachen lernt.» Darin musste ihr die Hofjägermeisterin Recht geben.
«Die Behörden haben ja keine Ahnung, welche sensiblen Bande sie auf diese Weise zerstören. Die Familien werden bis zur Unkenntlichkeit auseinander gerissen und lösen sich schließlich ganz auf. Niemals, niemals dürfen wir diesem schäbigen Gesetz erlauben, uns auseinander zu treiben», sagte Franz, meine «Marcato»-Schwester, die Schriftstellerin ist und sich gerne gewichtig ausdrückt.
Sie hat gerade einen Gedichtband mit dem Titel «Hinter den blauen Bergen» veröffentlicht und fühlt sich durch die spärliche Resonanz und die Vorbehalte der Kritik gekränkt. Ob die Kritiker Recht haben, kann ich nicht beurteilen, weil mir der Inhalt der Dichtung zu vertraut ist.
Als wäre der Dichter ein Mann, schreibt sie Gedicht auf Gedicht über den traurigen Verlust der geliebten Ehefrau. Sie benutzt meistens einen männlichen Ich-Erzähler. Vielleicht meint sie, es wirke dann künstlerischer; ich würde es eher künstlich nennen. Diese affektierten Herren finde ich weder sympathisch noch glaubhaft.
Der Rest der Familie – vielleicht mit Ausnahme von Helmuth – schlägt sich auf die Seite der Gekränkten und tut so, als bemerke er nicht, dass der Inhalt mit der wirklichen Tragödie zu tun hat, die wir erleiden mussten, als wir 1919 und 1920, im Abstand von weniger als einem Jahr, zwei unserer Schwestern verloren.
Zuerst starb meine «Gentile»-Schwester Edith. Der Gedanke daran bringt mich um. Als Kind sagte ich immer: «Edith ist der beste Mensch auf der ganzen Welt.» Die Verwalterin und die anderen Frauen machten Vidde Vorhaltungen und sagten, das sei ein merkwürdiges Kind, das nicht sagte, Vater und Mutter seien die besten Menschen auf der ganzen Welt. Vidde wies sie zurecht, während ich daneben stand und spürte, dass Vidde, gleich nach Edith, der beste Mensch auf der ganzen Welt war.
Neun Monate später verloren wir Charlotte, meine «Andante»- und Ebbas Zwillingsschwester. Edith wurde 38 und Charlotte 40 Jahre alt.
Mir ist aufgefallen, dass mehrere Szenen unmittelbar auf die Begebenheiten anspielen, die sich in den Tagen um den Todesfall ereigneten, und ich bin nicht in der Lage, von meinen toten Schwestern zu abstrahieren und meine Trauer und mein Mitgefühl auf diesen erdichteten, hart getroffenen Mann zu übertragen. Er steht mir fern und lässt mich kalt. Im Gegensatz zu den übrigen Familienmitgliedern hatte ich schon immer Schwierigkeiten mit dem So-tun-als-ob. Sie ziehen mich damit auf und sagen, ich sei wie Vidde, und man könnte meinen, dass auch ich das Kind einer Seemannsfamilie aus Nyboder sei.
Franciska glaubt, als Schriftstellerin sei sie der Chronist der Familie. Doch da irrt sie gewaltig. Ihr Metier besteht einzig und allein darin, Tatsachen zu verdrehen und Fakten zu verschleiern. Bei allem, was sie schreibt, arbeitet sie mit einem endlosen So-tun-als-ob. Und zwar auf eine recht plumpe Art, da ihr jede Raffinesse mangelt. Ich spüre sofort, wenn ein Text nach reifem Korn duftet, so wie Bønnelyckes Feuer und Jugend, Bogen und Stahl oder Baudelaires Die Blumen des Bösen. Ungeachtet der traurigen Themen ist man hingerissen und inspiriert von den Versen dieser Dichter. Franciska verwandelt in ihren Gedichten das Korn in steinhartes Brot, dessen Verzehr eine Qual ist.
«Man schaltet und waltet auf schamloseste Weise mit Dänemarks Grund und Boden», konstatiert meine Mutter, während meinem Vater durch den Kopf geht: aber nicht mit dem Teil, der sich in meinem Besitz befindet.
Es mag sich ja zunächst ganz verheißungsvoll anhören, dass ein Grundbesitz in freien Familienbesitz übergeht, aber so betrachten meine Eltern und Schwestern die Angelegenheit nicht. Klar und überzeugend, als sprächen sie mit einer Stimme, erklären sie:
«Ein unveräußerlicher Gutshof wie Willhofsgave bindet einen in besonderer Weise. Man hat eine große Verantwortung und kann nicht einfach nach eigenem Gutdünken handeln, weil er ja an die nächste Generation weitergegeben werden soll. Man verwaltet gewissermaßen Grund und Boden; es ist ein Stück Dänemark, das einem anvertraut ist.» Falls meine