Tanz der Zwerge. Anne Marie Løn
habe sie noch nicht näher kennen gelernt – zwei Stockblinde, ein Halbblinder und einer mit Buckel.»
Ellinor, meine Allegro-Schwester, geht auf mich los:
«Verschone uns mit deiner vulgären Ausdrucksweise, Tyge, dafür gibt es bestimmt griechische oder lateinische Namen.»
Ihre Augen blitzen, während sie meinen Vater ansieht, der todernst, ohne davon Notiz zu nehmen, dass wir anderen zu lachen anfangen, sagt:
«Kyphose für Buckel.»
«Amaurosis für Blindheit», ergänzt Helmuth.
Jetzt prusten wir los, sogar Andrea. Helmuth ist meinem Vater in seinem Ehrgeiz, auf alles eine Antwort zu wissen, vollkommen gleich geworden. Er ist sich darüber völlig im Klaren und stimmt in unser Lachen ein.
Rasch haben sich unsere beiden wandelnden Lexika dem Lachen ergeben – die Szene könnte sich genauso gut zu Hause im Speisezimmer abgespielt haben –, während ein Kellner des Palast Hotels äußerst diskret vor sich hin summt und unsere Teller zum Serviertisch trägt, auf dem eine kleine aufrechte Spiritusflamme unter der großen Schüssel mit dem Essen lodert. Der Kellner lässt sich Zeit und genießt die Situation. Wir sind keine ungeduldigen Gäste, sondern können uns unendlich lange in unserer eigenen Gesellschaft amüsieren, wenn wir das richtige Thema gefunden haben. Die Diskussionen beim Abendessen kreisen oft um die Bedeutung von Wörtern, und alle kennen nur zu gut den Klang von Vaters Stimme, wenn er sagt: «Das schlagen wir besser gleich nach. Hol mal den Molbech (oder die Lexika von Meyer, Arlaud, der Wissenschaftlichen Gesellschaft oder Müllers Synonymwörterbuch etc.); er steht im ersten Zimmer, drittes Regal von unten, links von der Tür, ein wenig nach hinten gerutscht ...» Meine Mutter schlägt lachend vor, er solle doch direkt unter dem Esstisch ein Regal für die Nachschlagewerke anbringen lassen. Früher war diese Neigung natürlich noch ausgeprägter. Inzwischen hat sich eine gewisse Ermüdung meines Vaters bemächtigt, die gleichsam im Takt mit dem wachsenden, inzwischen beträchtlichen Wissen der Kinder zunimmt.
Die Aufmerksamkeit meines Vaters richtet sich auf mögliche Ergänzungen meinerseits, aber wir warten ab, bis der letzte seinen Teller bekommen hat, um mit dem Essen beginnen zu können.
«Es gibt auch einen weiblichen Organisten, doch was mit ihr nicht stimmt, außer dass sie ledig ist, hab ich noch nicht herausgefunden.»
«Jetzt gehst du zu weit, Tyge», sagen die Augen meiner Mutter, während ihr Mund uns zum Essen auffordert.
Die Augen der anderen plappern die stumme Replik meiner Mutter nach. Ellinor beugt sich weit über den Teller, um ihr Grinsen zu verbergen.
Wir brauchen nicht lange, bevor wir das Gespräch wieder aufnehmen, während wir essen. Andrea ist in der Regel nicht besonders hungrig, also ergreift sie die Gelegenheit, gleich in den ersten Minuten etwas zu sagen, ohne unterbrochen zu werden. Sie beugt sich über den Tisch und berichtet Helmuth von Johannes Poulsens ergreifender Darstellung als Narr.
Helmuth nickt und verspricht, sich die Vorstellung gleich in den nächsten Tagen anzusehen. Andrea erzählt von der Bitterkeit und Rohheit, die Poulsen zum Ausdruck bringe. Besonders bei einem Lied, das soweit sie sich erinnere Der Hass ist stärker heiße.
«Ich habe vor Freude gezittert, als er es gesungen hat», sagt Franz und hält sich die Hand vor den vollen Mund.
«Mir hat das nicht gefallen», entgegnet Gudrun. «Ich finde, man sollte dem Hass kein Loblied singen.»
Ich nicke ihr zu; so hätte Edith das auch gesagt.
Andrea schaut sich ärgerlich um und beginnt zu essen, während ihr Blick zu meiner Mutter wandert, die gerade zu Ende kaut, um danach etwas zu sagen.
«Aber die anderen Lieder ... wie Eine reiselustige Flotte, glaubt mir, das kommt eines Tages in das Gesangbuch der Volkshochschule.»
Niemand hat Lust, ihr zu widersprechen. Einer ihrer Brüder war als Redakteur für das Liederbuch verantwortlich.
«Eine leichte und eingängige Melodie von Carl Nielsen, nicht wahr, Tyge?» Ich nicke Ellinor zu und sage:
«Das zweite Lied: Mein Mädchen ist so hell wie Bernstein, habt ihr das bemerkt, ich meine den Text?»
Ich schaue mich nach einer Reaktion um.
Mein Vater summt den Refrain mit geschlossenem Mund. Beinahe richtig. Von ihm habe ich meine Begabung. Meine Mutter hingegen ist völlig unmusikalisch. Dafür besitzt sie ein unglaubliches Gedächtnis und fügt den Melodiefetzen meines Vaters, die ich im Stillen korrigiere, die gesprochenen Worte hinzu: «Prinzessin Tove von Dänemark.»
«Die Symbolik ist kostbar», meint mein Vater.
Ich berichte, während alle zuhören, dass Rode von einer Nichte namens Tove zu diesem Text inspiriert worden ist, die er sehr gern gehabt hat.
Meine Schwestern Ellinor, Gudrun und Ebba sind gerührt, meine Mutter schaut skeptisch drein, und Andrea wirft mit allen Zeichen der Missbilligung die Frage auf, ob man so etwas tun dürfe. Franz ist ganz Ohr, weil es sich um ihr Gebiet handelt, die Kunst des Schreibens und das lebende Vorbild.
Mein Vater lässt verblüfft Messer und Gabel sinken. Selbst hat er niemals davor zurückgeschreckt, seine Töchter in gewissem Sinne als Königskinder zu betrachten.
«Ich finde das dann doch ein wenig zu persönlich. Dieses Kind kam wohl aus einer ganz besonderen Familie.»
«Ach komm, Hans Helmuth», sagt meine Mutter nachsichtig. «In allen Schichten und Klassen werden die Kinder liebevoll als Prinzen und Prinzessinnen bezeichnet.»
«Na dann prost», sagt mein Vater beschwingt und mit einem Zwinkern. Er hebt sein Glas und schaut in die Runde, wobei er mit jedem einzelnen Blickkontakt aufnimmt.
«Zum Wohl, meine lieben Kinder, und denkt daran, dass manche mit mehr Berechtigung Prinzen und Prinzessinnen genannt werden als andere.»
Wir lächeln milde; seine Überheblichkeit ist erklärlich und entschuldbar.
14
Großzügigkeit ist ein Adelsmerkmal meines Geschlechts. Das ist mein Glück; ich bin mir der Tatsache vollkommen bewusst, in gute Hände geraten zu sein. Sollte ich nicht so großherzig sein wie die anderen und meine Seele womöglich weniger Noblesse besitzen, dann liegt es daran, dass ich nur ein brauner Topinambur unter weißen Lilien bin. Es geschieht höchst selten, dass ich im Mittelpunkt stehe, darum kann ich mich an den Abend im Palast Hotel auch so gut erinnern.
Dass mein Vater seine Kinder gewissermaßen als Königskinder betrachtet, liegt daran, dass das Erbhofsystem praktisch den Regeln und Gesetzen eines Königshauses folgt. «Wer, außer dem Königshaus, besitzt keine Religionsfreiheit?», fragen meine Schwestern, während sich ihre Gesichtshaut algenartig hin und her bewegt.
Der Begründer von Willhofsgave, der Staats- und Landrat Tycho de Willhof, verlangte, dass mein Urgroßvater als erster Erbhofbesitzer Namen und Wappen der Familie annehmen und Lutheraner werden sollte. Er schenkte uns das Gut vor 138 Jahren aus reiner Großherzigkeit.
Der Erbhofbegründer, der kinderlos und in die Jahre gekommen war, machte den damals achtjährigen Hans Ludvig Holm, meinen Urgroßvater, zum ersten Erbhofbesitzer. Er erhielt den zusammengesetzten Namen Tyge Ludvig Willhof-Holm.
Der Wohltäter besaß zum begünstigten Jüngling eine zweifache familiäre Verbindung und war sich anscheinend sicher, dass dessen Abstammung für Qualität bürgte. Die Mutter des Jungen war die Tochter seiner Schwester. Mit der Großmutter väterlicherseits des Jungen, Elisabeth, war er verheiratet. Sie war die Witwe des Schiffsarztes Helmuth Holm. Tycho de Willhof war also der Ersatzgroßvater des Jungen. Als Kind verbrachte er einige Zeit auf dem Gut, das nach einem früheren deutschen Besitzer Böttingsborg hieß, bevor es zu unserem Erbhof wurde, sodass der Staatsrat Gelegenheit hatte, den Jungen zu begutachten.
Als Tycho bald nach der Erbhofbegründung starb, wurde das Gut für einige Jahre von Elisabeth de Willhofs Sohn geführt, Hans Helmuth Holm, dem