Tanz der Zwerge. Anne Marie Løn
fahren.
Ich habe das Gefühl, mein Bruder und ich teilen stillschweigend den Eindruck, der Kampf meines Vaters sei der von Don Quijote gegen die Windmühlen und halte ihn aufrecht.
Einer der Wahlsprüche meines Vaters, die er seinen hoch gewachsenen Kindern mit auf den Weg gibt, lautet: «Man leidet nur einmal und siegt für immer.» Ich wünschte, er könnte das zu sich selbst sagen oder seinem Herzen mit einem anderen Kierkegaard-Zitat Luft verschaffen: «Schlechte Zeiten sind gute Zeiten.» Dies sagte er bei einem ganz bestimmten Anlass, doch ich hätte es besser gefunden, die Dinge beim Namen zu nennen: Gute Zeiten sind gute Zeiten.
13
«Schlechte Zeiten sind gute Zeiten ... Lasst uns ausgehen und Tyges Anstellung feiern.»
Mit diesen Worten lud mein Vater uns alle zum Abendessen ins Kopenhagener Palast Hotel ein, weil die zu Hause wohnenden Mitglieder meiner patriotisch gesinnten Familie, angeführt von dem in die Jahre gekommenen, aber immer noch stattlichen Erbhofbesitzerpaar sowie Andrea, Ebba, Franz und Gudrun sich in der Hauptstadt befanden, um Helge Rodes Wiedervereinigungsfestspiel «Die Mutter» am Königlichen Theater anzuschauen. Das war kurz nachdem ich meine Tätigkeit in der Nordkapelle aufgenommen hatte.
Ellinor wohnt in der Asmussens Allee ganz in meiner Nähe. Ich spendierte uns einen Mietwagen bis zum Theater, wo wir die anderen im Foyer trafen. Helmuth stieß erst während des Abendessens zu uns.
Das Palast Hotel galt lange Zeit als Treffpunkt des Landadels in der Hauptstadt, eine Tatsache, über die mein Vater bisher nachsichtig hinweggesehen hatte. Wenn er sich in der Hauptstadt aufhält, fühlt er sich als Kopenhagener und betrachtet sich selbst und seine Familie ohnehin als einzigartige Institution, die es nicht nötig hat, sich an besonders prestigeträchtigen Orten zu zeigen. Denn das Palast Hotel ist geschmacklos eingerichtet mit seinen seeländisch-bäuerlichen Möbeln, den künstlichen, nach Gas riechenden Kaminen und den hässlichen erdfarbenen Teppichen und Bezügen. In meiner Kindheit, als wir zunächst in der Wohnung meines verstorbenen Großvaters mütterlicherseits am Højbro Platz und danach in der Store Kongensgade wohnten, gingen wir selten aus. Später bevorzugte mein Vater das Hotel Phönix. Dass wir uns jetzt im Palast Hotel treffen, geschieht allein Helmuth zuliebe.
Wir haben unsere Plätze an der Tafel eingenommen, unsere Bestellungen aufgegeben und warten auf das Essen. Diese Szene fällt mir ein, weil sie ein gutes Beispiel für die Fähigkeit meiner Familie ist, aus den meisten Situationen das Beste herauszuholen. Meine Eltern führen das Wort, und ich spüre, dass der Westfriedhof für sie immer noch eine proletarische Aura besitzt. Zumindest wäre es für das Kopenhagener Geschlecht meiner Mutter im letzten Jahrhundert unvorstellbar gewesen, sich auf diesen Armenfriedhof verbannen zu lassen.
Ich verhalte mich ruhig, obwohl sie irren, als sie behaupten, es sei weniger attraktiv – und würde es auch immer sein –, auf dem Westfriedhof begraben zu werden als auf dem Assistenzfriedhof, wo der eigene Humus sich mit dem großer Geister vermischen könne. Ebba macht darauf aufmerksam, dass der Weingroßhändler Therkildsen, dessen Assistentin sie über mehrere Jahre gewesen ist, auf dem Westfriedhof begraben liege und dass sein Name sowie sein Grabmonument sicher jedem Friedhof zur Ehre gereichen würden.
Ich hingegen denke an die Pracht und Schönheit, die diesen Ort mit seinen riesigen Baumkronen, den seltenen Pflanzen und dem glitzernden Wasser ohnehin auszeichnen. Sie einigen sich schließlich darauf, dass es nicht ausnahmslos unbedeutende Menschen sind, die auf meinem Friedhof begraben liegen.
Meine Mutter weist darauf hin, dass Nathalie Zahle dort beigesetzt worden sei. Eine ihrer Nichten, die eine Schülerin Zahles gewesen sei, habe sogar am Begräbnis teilgenommen. Franz führt den Dichter Axel Juel ins Feld, und Ellinor hebt Kristian Zahrtmann hervor, der sie auf der Kunstakademie unterrichtet hat. Mein Vater lebt spürbar auf, als ihm einfällt, dass auch Wilhelm Bergsøe dort begraben liegt. Helmuth nickt wissend; sie haben ihn beide gekannt. Bergsøe war einer der jungen Wissenschaftler, die sich zur Zeit meines Großvaters auf Willhofsgave vorstellten und freundlich aufgenommen wurden.
«Hammershøi, nicht wahr, Tyge?»
Ich nicke Ellinor zu. Der Maler, sie hat Recht. Jetzt blickt mein Vater mich an.
«Niels Finsen! Bist du dir darüber im Klaren, Tyge, dass auch er dort liegt? Ein Jahr vor seinem Tod bekam er den Nobelpreis.»
Ich nicke und stimme ihm zu. Ich glaube, mein Kinn schiebt sich ganz von selbst nach vorne – sogar Nobelpreisträger!
«Ich erinnere mich an einen Zeitungsartikel, der in Verbindung mit Finsens Beisetzung von der Schönheit des Westfriedhofs handelte», fährt mein Vater fort.
«Du denkst an die überwältigende Beschreibung von Magister Viggo Bierring in Politiken. Die Landschaftsarchitekten müssen sich sehr gefreut haben», sagt Helmuth und übersieht den zurechtweisenden Blick meiner Schwestern.
«Die schönste Parkanlage der Stadt. Die landschaftlichen Gegebenheiten sind großartig einbezogen worden; man hat sogar einen Ausblick auf den Kai von Kalvebod. Alles ist geprägt von Gestaltungswillen und Fruchtbarkeit.» Helmuth drückt sich nur selten so begeistert aus.
Meine empfindsamen Schwestern, allen voran Andrea und Gudrun, schauen meinen Vater ängstlich an, der kurz vor sich hin grummelt und anschließend schweigt, weil er Politiken nicht ausstehen kann. Er hegt eine schwere Aversion gegen Georg Brandes, die er von seinem Vater übernommen hat, und räumt daher nur ungern ein, dass Politiken zu den Zeitungen gehört, die er regelmäßig liest. Ich habe einmal versucht, dieser Aversion auf den Grund zu gehen, und kann die Alten eigentlich gut verstehen. Eine von Brandes’ ersten Veröffentlichungen war eine kritische Betrachtung der neuen naturwissenschaftlichen Weltsicht, der er den frommen Glauben an Gott und das Übernatürliche entgegensetzte. Natürlich erzürnte das meinen Großvater. Punkt für Punkt nahm Brandes alles freudig aufs Korn, wofür das Geschlecht der Willhof-Holms stand. Mein Vater hat mit dieser ererbten Aversion seine Schwierigkeiten, denn er stimmt mit Brandes in vielem überein und bewundert insgeheim die Verachtung des alten Revolutionärs für die Oberflächlichkeit unserer Zeit.
In den Augen meines Vaters sehe ich kurz Duldung, wenn nicht gar Zustimmung dazu aufblitzen, dass der Zorn auf Brandes und dessen völlig unsinnige Weiterleitung auf Politiken sich nicht auf Helmuth übertragen hat. Er räuspert sich, während er seinen Blick zu mir wandern lässt. Ich könnte gut und gerne einiges über Brandes äußern, den ich sehr bewundere, aber der Zeitpunkt ist wohl nicht gerade der günstigste.
«Hast du überhaupt einen Blick für all die Gräber dieser Berühmtheiten, oder gehst du mit Scheuklappen über den Friedhof, Tyge?»
«Die Gräber in der Nähe der Kapelle sehe ich täglich. Ansonsten ist ja noch alles ziemlich neu für mich. Aber wenn das Wetter besser wird, will ich mich natürlich mal gründlich umsehen. Ich bin neulich in der Bierstube beim Materialdepot auf ein Pils eingeladen worden und ...»
Andrea beugt sich ungläubig nach vorne und schaut mich vorwurfsvoll an, was an den Augenbrauen meines Vaters liegt, die nach oben geschnellt sind. Ich amüsiere mich im Stillen und fahre fort:
«... bin direkt an der Grabstelle von Emil Johansen vorbeigekommen.»
«Ah, der berühmte Gärungsphysiologe von Carlsberg.»
Mein Vater schaut zu meiner Mutter, die erklärt, ihr Vater habe Johansen aus der Wissenschaftlichen Gesellschaft sehr gut gekannt.
Helmut lehnt sich über den Tisch und schaut mir in die Augen.
«Dann hast du sicher auch bemerkt, wie groß Herman Bangs Blutbuche geworden ist. Ich war ganz schön erstaunt, als ich letztes Mal dort war. Stell dir vor, in weniger als zehn Jahren.»
Jetzt bin ich es, der sich wundert. Ich hatte keine Ahnung, dass Helmuth den Westfriedhof aufsucht.
Mein Vater ergreift hastig das Wort und fasst zusammen, man müsse trotz allem konstatieren, dass der Westfriedhof sich in den letzten fünfzig Jahren zu einer bemerkenswerten Friedhofsstätte entwickelt habe. Er sieht mich aufgeräumt an.
«Du hast