Tanz der Zwerge. Anne Marie Løn

Tanz der Zwerge - Anne Marie Løn


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die Trübheit und Kälte des Tages zu vertreiben.

      Als Bewohner der attraktivsten Wohnung des Hauses – im ersten Stock mit Eckfenster – bin ich sehr von der späten Nachmittagssonne begünstigt. Heute wirkt es beinahe so, als wichen ihre Strahlen vor der Musik zurück.

      In den letzten Tagen hatte ich alle Hände voll damit zu tun, neuere Musik zu transponieren, die ich gern selbst spielen möchte, nachdem ich sie gelesen habe. Musikliteratur mit vielen Vorzeichen erfordert lange Finger. Ich betrachte meine Übertragungen als so gelungen, dass das Resultat manchmal sogar besser als das Original ist. Jetzt genieße ich zu spielen, was mir in den Sinn kommt, schöpfe meine Möglichkeiten aus und vergesse meine Grenzen. Die Noten sind mir so geläufig, dass ich, wenn ich zu spielen aufhöre, fast über den Anblick meiner kurzen, dicken Finger erschrecke, weil sie mir, solange ich spielte, vorkamen wie weißer Spargel von hervorragender Qualität.

      Meine Finger huschen über die Tasten. Es ist, als würde man Feuer in einem kalten Kachelofen machen. Erst klingt es sehr effektvoll, hinterlässt aber kaum eine Wirkung. Doch mit der Zeit beginnt das Feuer ruhig und gleichmäßig zu brennen, während die Wärme sich langsam im Raum ausbreitet.

      Der Kachelofen bin natürlich ich selbst, mein Körper und mein Intellekt; das Instrument braucht keine Aufwärmphase, schon gar nicht der Flügel, den ich – den vielen Todesfällen im Winter sei’s gedankt – kürzlich gegen das Harmonium eintauschen konnte, das mein Vater mir mitgab, als ich vor fast zwanzig Jahren hierher zog: gebraucht gekauft und damals schon ziemlich heruntergekommen. Es war Olaf André Halle, der mir meinen Flügel der Firma Hornung og Møller aus dem Nachlass eines Theaterkorrepetitors besorgt hat.

      Bald beginnen die Kinderszenen zu verblassen und werden von Fantasien verdrängt, die meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. Mit Schumann lässt sich schlecht tanzen, aber jetzt will ich tanzen. Der Anblick des Profils im Spiegel über der Orgel hat mich wagemutig und behende gemacht. Die Harmonien werden farbig und verleihen den melodischen Figuren Fülle. Der Lärm der Straße, der manchmal schlimm sein kann, stört mich ebenso wenig wie Anna Lovinda, die sich im Schlafzimmer und in der Küche zu schaffen macht.

      Die bedeutenden Klavierwerke spiele ich vorzugsweise an meinen freien Tagen. Ich mag die Sonntage und genieße es, mit gutem Gewissen abzulehnen, wenn Kollegen mich fragen, ob ich für sie einspringen will.

      Wenn ich immer noch ab und zu einen Gottesdienst übernehme, dann geschieht es in der Hoffnung, einen früheren Tagtraum wieder zum Leben zu erwecken, der mir eine Vorstellung davon vermittelte, wie es wohl wäre, als Organist einer Pfarrkirche die Zeremonien der glücklichsten oder traurigsten Anlässe mit zu gestalten und die rituelle Abfolge der Kirchenfeste durchs Jahr hindurch zu begleiten. Diesen Gedanken spiele ich stets aufs Neue durch, wenn ich in der Kapelle an der Orgel sitze.

      An den besten Tagen habe ich das Gefühl, im Laufe von vier, fünf Begräbnissen das gesamte Kirchenjahr mit allen dazugehörigen Begebenheiten – von der Taufe über die Konfirmation bis zu Hochzeit und Begräbnis – zu durchlaufen. Auf diese Weise können verschiedene Menschenleben, wenn ich in der Kapelle spiele, in meiner Vorstellung ohne Brüche oder erkennbare Übergänge in eins zusammenfließen, und die Verflechtung von Leben und Tod gewinnt eine konkretere Bedeutung als das ewige Leben des Christentums, an dem ich starke Zweifel habe.

      Die Papillons oder Davidsbündlertänze können mich fast in Trance versetzen und mir das Gefühl geben, Robert Schumann selbst zu sein und mich auf der dunklen Seite der Geisteskrankheit mit ihrem permanenten Wechsel von Euphorie und Depression zu befinden.

      Ansonsten wäre ich gern an seiner Stelle gewesen, als er Clara, die Tochter seines Lehrers, in Leipzig heiratete. Sie war eine ausgezeichnete Pianistin und Komponistin, erreichte jedoch nie das Niveau ihres Mannes, obwohl sie vierzig Jahre mehr Zeit zum Arbeiten hatte als er. In Leipzig hatte ich einen Lehrer, der in Frankfurt von Clara Schumann unterrichtet worden war und daher mit Enthusiasmus ihre Kompositionen lehrte. Ich mag sie beide und bin überhaupt – genauso wie mein erster Lehrer: mein Vater – ein Anhänger der deutschen Spätromantik. Den musikalischen Lyrikern widmete ich mich vor allem gemeinsam mit Edith, wenn ich zu Hause war.

      Meine Hände haben die Führung übernommen und spielen sich, vom Unterbewusstsein geleitet, in Schumanns sakrale Vokalwerke hinein, während meine Gedanken Clara Schumann auf ihren nicht enden wollenden Konzertreisen durch ganz Europa begleiten, die sie in kräftezehrendem Wechsel mal auf dem Podium, mal in der Einsamkeit wechselnder Hotelzimmer zubrachte. Über eines ihrer Konzerte in Kopenhagen schrieben die Kritiker, sie habe Tiefe und Poesie bewiesen – in meinen Ohren hört es sich wie die Musik eines unglücklichen Menschen an.

      Während ich die Phantasiestücke spiele, wandelt sich meine Stimmung, und der Neid auf das Glück Robert Schumanns, als er die Prinzessin und das halbe Königreich dazu erhielt, reduziert sich auf ein Minimum. In den vierzehn Jahren ihrer Ehe zog sie fremde Hotelbetten seiner Nähe vor. Und was hat er nicht alles von seinem Schwiegervater erdulden müssen, weil der Zufall es wollte, dass er auch nach beendigtem Studium in dessen Reichweite blieb. Claras Vater hat ihn sicher mit pedantischer Kritik traktiert, obwohl er ihm nicht im Entferntesten das Wasser reichen konnte.

      Die Finger halten inne und fallen wie erschossene Spatzen auf die Tasten. Das jähe Ende der Musik hat mich zu der Erkenntnis geführt, dass ich unter keinen Umständen eine Ehe mit Clara Schumann eingegangen wäre, und jetzt erreicht der Duft nach geröstetem Brot meine Nasenlöcher. Anna Lovinda steht mit dem Teebrett neben mir und sagt: «Entschuldigung.»

      Ich blicke auf, Worte sind überflüssig; sie ist verpflichtet, mich zu unterbrechen, und das weiß sie. Es hat lange gedauert, bis wir so weit gekommen sind. Das kleine «Entschuldigung» und ihr Verharren neben dem Klavier sind ein Schritt auf dem Weg zu einer mühsam anerzogenen Verhaltensweise. Eines Tages wird sie, das strebe ich zumindest an, freiheraus sagen «Hier haben sie Ihren Tee» oder auch nur «Es ist Teezeit».

      Sie sieht aus, als sei sie in Gedanken, geht zum Tisch am Fenster und deckt ihn für mich. Ich habe oft das Gefühl, sie habe etwas Bestimmtes auf dem Herzen, worüber sie mit mir sprechen möchte. Mitunter trifft das zu, während ich dieses Gefühl andere Male meinem Unvermögen zuschreiben muss, mit einfachem Dienstpersonal richtig umzugehen. Zu Hause befand sich Vidde stets zwischen ihnen und mir. Ungefähr die gleiche Rolle haben auch verschiedene Zimmerwirtinnen in meinem Leben ausgefüllt.

      Helmuth selbst war es, der das Arrangement mit Anna Lovinda vorschlug, als ich von einem gemieteten Zimmer in diese Wohnung umzog. Früher hatte er ein offenes Haus. Zeitweise wohnten Charlotte und Ellinor bei ihm, Ebba sogar mehrere Jahre lang. Heute ist seine Haushaltsführung, wenn ich Anna Lovinda richtig verstehe, ziemlich bescheiden. Sie ist seit zehn Jahren bei ihm, wohnt in seinem Haus und kommt an den Nachmittagen meistens zu mir, um für ein paar Stunden zu bleiben. Helmuth besteht darauf, sie dafür zu bezahlen, doch wenn ich zu Hause bin, geht sie selten mit leeren Händen wieder fort.

      «Sie haben so schön gespielt, besser als an anderen Tagen ... wenn ich das sagen darf.»

      Ich freue mich, nicke eifrig und denke: So ist es richtig, Anna Lovinda. Bei mir soll das Dienstmädchen nicht wie ein stummer Einrichtungsgegenstand sein, sondern ein lebendiger Mensch, der nach seinen eigenen Maßstäben handelt.

      «Ich glaube, Sie sind musikalisch. Es trifft nämlich völlig zu, dass ich heute besser als sonst gespielt habe», sage ich, während ich zum Teetisch hinübergehe, wo ich in einem niedrigen Chesterfieldsessel Platz nehme.

      Sie errötet so tief, dass es fast unkleidsam ist, verneigt sich und lässt ihren Blick zu einem Brief schweifen, den sie dekorativ gegen eine Zuckerschale gelehnt hat.

      «Ein Brief von zu Hause», sagt sie lächelnd und setzt sich auf mein Zeichen in den Stuhl mir gegenüber. Das ist etwas, was ich ihr gleich beigebracht habe: sich hinzusetzen, so dass ich weiß, es befindet sich noch ein weiterer Mensch in diesem Zimmer. Ich hatte sofort gewusst, dass – falls sie es überhaupt jemals lernen würde – Winter und Frühling darüber vergehen würden, falls ich sie nicht direkt ansprach, und das tat ich: «Offen gesagt, Anna Lovinda, habe ich so wenig Umgang mit anderen Menschen, dass es mir eine Freude wäre, wenn Sie mir während des Teetrinkens Gesellschaft


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