Seewölfe - Piraten der Weltmeere 693. Jan J. Moreno

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 693 - Jan J. Moreno


Скачать книгу
Sie gehörte Raghubir, dem weisen, heiligen Mann.

      Noch ehe sich die Sonne dem Abend zuneigte, war ein Scheiterhaufen aus dürrem Reisig aufgeschichtet. Der Leichnam wurde aufgebahrt. Seine Eimer lagen neben ihm und ebenso das Rundholz, das er zum Tragen benutzt hatte.

      Vom Fenster aus sah Khande Rao die hoch auflodernden Flammen, und das Herz krampfte sich ihm zusammen.

      Etliche Monate vergingen, und der Herbst brachte reiche Ernte. Schwermütig blickte der Knabe den großen Vogelschwärmen nach.

      Nicht nur die Abende wurden kürzer, auch die Nebel stiegen wieder vom Fluß auf. Khande fand kaum mehr Ruhe. Immer häufiger vernahm er eine innere Stimme, die ihm die eigene Vergänglichkeit vor Augen führte. Er schreckte nachts schweißgebadet auf und erinnerte sich, vom Tod des Dieners geträumt zu haben. Schlimmer wurde alles noch, weil er mit niemandem darüber sprach – selbst sein Vater hätte ihn nicht verstanden.

      Er betete häufiger als sonst am Altar der Hausgottheit der im hinduistischen Glauben lebenden Familie. Sõma, den er verehrte, war seit uralter Zeit der König der Pflanzen und zugleich das Kraut, aus welchem zu Opferzwecken ein Unsterblichkeitstrank gebraut wurde. Bei den Göttern wurde dieser „Nektar“ in einem großen Gefäß aufbewahrt – im Mond. Bei der Familie Rao tat es ein mit Wachs versiegelter Tonkrug.

      Erstmals spielte Khande mit dem blasphemischen Gedanken, das Siegel ein klein wenig zu beschädigen und etwas von dem Göttertrank auf seine Lippen zu träufeln. Er fürchtete sich unbewußt, auf ähnliche Weise zu sterben wie der Mistträger.

      Ausgerechnet an diesem Morgen, nachdem er den Anruf der Hausgottheit beendet hatte und mit sich selbst haderte, schreckte ihn das Geräusch von Schritten auf. Im ersten Moment hätte er nicht zu sagen vermocht, ob das gleichmäßige Knirschen des hellen Kieses nur in seiner Einbildung entstand, oder ob tatsächlich jemand vor dem Haus vorüberging, zögernd, als warte er nur darauf, daß Khande zum Fenster eilte. Doch dann entschied sich Khande, daß da wirklich jemand war. Vielleicht einer seiner Freunde.

      Das Fenster, ein mit Tierhaut bespannter Holzrahmen, stand offen. Er hörte nun ganz deutlich, daß sich die Schritte zum Rand jener Terrasse entfernten, auf der der Mistträger sein Leben verloren hatte.

      Aufmerksam blickte Khande Rao hinaus.

      Aus dem Nebel schienen sich die Umrisse eines Mannes zu verdichten. Zwei Eimer trug er über der Schulter.

      Der Knabe wagte kaum zu atmen. Seine Finger verkrallten sich in den Fugen des Mauersimses. Er achtete nicht darauf, daß ihm die rauhen Steine die Haut abschürften.

      Endlich, als sich der Fremde flüchtig umwandte, konnte er dessen Gesicht erkennen.

      Es war der Mistträger.

      Zu Tode erschrocken, ahnte er, daß der Geist des Ermordeten erschien, um sich an dem alten Raghubir zu rächen.

      Langsam schritt der Mistträger die glitschigen Stufen hinunter, an denen Ende sich das Haus des Brahmanen an die Felsen duckte.

      Nichts hielt den Knaben zurück. Er mußte dem vermeintlichen Geist folgen, ob er wollte oder nicht. Er hatte Angst und versuchte zugleich, sich einzureden, daß nichts von dem wahr war, was er zu sehen glaubte.

      Beklemmend legte sich der Nebel auf seine Brust. Trotzdem hastete er den Weg hinunter, so schnell er konnte.

      Einmal, als sich der Mistträger abermals flüchtig umwandte, verbarg sich der Knabe im Schatten eines mannshohen Gebüschs. Zu seiner Überraschung ging der Geist an Raghubirs Haus vorbei, ohne nur einen Moment zu zögern.

      War es doch nicht der Ermordete?

      Khande schob alle Zweifel weit von sich. Der etwas hinkende Gang des Mistträgers war unverkennbar.

      Zwanzig Schritte weiter stand die Hütte der Familie Tschittanga. Sie waren Shudras, gehörten also wie der Tote nur der niederen Dienstklasse an.

      Der Geist betrat den nicht sehr großen Hof und war Augenblicke später spurlos verschwunden. Allem Anschein nach hatte er das windschiefe Gebäude durch den hinteren, nur mit schweren Tüchern verhängten Eingang betreten.

      Von innen erklangen spitze, kurzatmige Schreie. Nie zuvor hatte der Knabe eine Frau so schreien hören. Eine dumpfe Männerstimme redete beruhigend auf sie ein.

      Egal, was geschehen war, Khande mußte es wissen. Blindlings hastete er weiter und stieß beinahe mit einem Mann zusammen, der das Haus verließ. Im ersten Moment schrie er entsetzt auf, weil er glaubte, dem Geist gegenüberzustehen, doch die Stimme, die auf ihn einredete, war menschlich.

      „Du kannst nicht hinein.“

      „Warum nicht? Was ist geschehen? Hat er …?“ Entsetzliche Vorstellungen schnürten ihm die Kehle zu.

      Das Kreischen der Frau ging durch Mark und Bein. Als fahre ein Dämon aus ihr hinaus! durchzuckte es ihn.

      „Komm!“ sagte der Mann unvermittelt und zog ihn sanft mit sich. „Meine Schwester sieht ihrer Niederkunft entgegen. Es ist fast schon zu spät, um einen Heilkundigen zu holen.“

      „Aber – der Mann, der Mistträger …“ Vor Erregung brachte er kaum noch ein Wort heraus.

      Sein Gegenüber verzog das Gesicht.

      „Ein Mistträger ist das Letzte, was meine Schwester jetzt braucht.“

      „Er ist eben ins Haus – mit zwei Eimern. Ich habe ihn hineingehen sehen.“

      „Du redest wirr. Verschwinde endlich! Da ist niemand außer Arhantika und ihrem Mann.“

      Nur ein leises, verhaltenes Wimmern war noch zu vernehmen. Augenblicke später wurde die Tür aufgestoßen: „Du brauchst den Heilkundigen nicht mehr zu rufen, meine Frau hat eben einen Sohn zur Welt gebracht.“

      Khande verstand, daß der Geist nicht erschienen war, um sich zu rächen, sondern um wiedergeboren zu werden. Seine Seele fand noch keine Ruhe. Nur wenn er in den heiligen Wassern des Ganges gestorben wäre, hätte ihn das von allen noch bevorstehenden Wiedergeburten erlöst. Nicht mehr wiedergeboren zu werden, war das höchste Ziel, auf das ein Hindu hinstreben konnte.

      Allerdings wunderte sich Khande Rao darüber, daß der Mistträger, der in seinem letzten Leben ein Shudra gewesen war, erneut der niederen Kaste angehören sollte. Gewiß hätte er es verdient, ein Vaishya zu werden, ein Händler, oder gar den Kshatriyas, dem Kriegeradel anzugehören.

      Straften ihn die Götter auf diese Weise für ein besonderes Vergehen?

      Sieben Jahre zogen ins Land. Der Knabe wurde zum Jüngling, der sich oft gegen die Traditionen auflehnte, weil er verlernt hatte, dem Altüberlieferten zu vertrauen. Der Sohn der Familie Tschittanga, dem seine Eltern den Vornamen Waruna gegeben hatten, entwuchs allmählich dem Kindesalter.

      Drei Jahre nach ihm war seine Schwester Sumangalã geboren worden, ein Mädchen mit ebenmäßigen Gesichtszügen und einer Haut wie Pfirsichblüten.

      Waruna war anders als die Kinder in seinem Alter. Er sonderte sich ab und weilte mitunter tagelang bei seinen Tieren. Er liebte die schneeweißen Tauben, die er im Stall eines Nachbarn halten durfte, solange er dessen Zugochsen mit Futter versorgte und den Mist auf die nahen Felder karrte.

      Raghubir lebte noch, allerdings vermochte Khande Rao nicht zu sagen, ob der Greis inzwischen sichtbar älter geworden war. Längst hatte der heilige Mann das faltige Aussehen einer Mumie. Deutlich zeichneten sich die Knochen unter seiner lederartig gegerbten Haut ab.

      Wieder erklang der verlockende Gesang des Morgenvogels, und wieder stiegen Nebelschwaden vom nahen Fluß auf. Der Jüngling stand am Fenster, als Raghubir den schmalen Weg zu den Terrassen hinaufstieg. Vor Jahren waren hölzerne Geländer angebracht worden, um zu verhindern, daß erneut jemand zu Tode stürzte.

      Waruna Tschittanga lauschte dem Gurren der Tauben, als plötzlich eine von ihnen aufflatterte und sich nahe dem alten Brahmanen auf dem Geländer niederließ. Waruna rief vergeblich nach ihr, deshalb fürchtete er wohl, sie könnte ihm davonfliegen. Als er sich


Скачать книгу