Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook). Tessa Korber

Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber


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was eine Eigentumswohnung in einem der Altbauten mit begrüntem, graffitigeschmückten Hinterhof samt ansässigem Künstler heute kostete. Aber es war nicht das, was ihn hatte anhalten lassen. Sondern das untrügliche Gefühl, verfolgt zu werden.

      Steinberger ließ seinen Blick über die lebhaften Straßen schweifen, die Lokale. Niemand fiel ihm auf. Aber das bohrende Gefühl war da, wie lange schon? Er ging im Geiste den Weg zurück, den er genommen hatte. Bis in die U-Bahn, bis in den Bus. Sah noch einmal die Gesichter, hörte Gemurmel, erinnerte sich an Details wie Frisuren, Kappen, bunte Kleidungsstücke. Keines tauchte hier wieder auf. Er war die einzig stillstehende Figur in einem sich rasch und fröhlich drehenden Universum. Er betrat ein Café, fragte nach der Toilette, fand den zweiten Ausgang über den Innenhof, ging in das querstehende Nachbargebäude und verließ es durch die Vordertür. Diese Nebenstraße war leer.

      Mit energischem Schritt ging er weiter. Der Weg war nicht mehr weit. An den Rampen, diesem Niemandsland nahe der Autobahn, gab es kaum Passanten, dort würde ihm jeder auffallen. Und seine Uhr sagte ihm, dass in dem MyPlace, wo er sein Staufach gemietet hatte, um diese Zeit Personal anwesend sein musste.

      Doch seine Annahmen erwiesen sich als falsch. Die einstige Industriebrache zwischen Gleisen und Autobahn war zu einer belebten Baustelle geworden. Die Uhrzeit stimmte, doch der Empfang lag verlassen, ebenso die Aufzüge, die Parkplätze und die klinisch sauberen, fensterlosen Korridore im Inneren, von denen uniforme, abweisend geschlossene Türen abgingen. Das Ganze hatte den Charme eines Atombunkers. Nur ohne den Nervenkitzel einer Apokalypse. Er hatte sich hier schon beim ersten Besuch nicht wohlgefühlt. Er hatte auch nicht vorgehabt, je wieder herzukommen. Er vermutete, dass es den meisten Mietern ebenso erging. Wahrscheinlich zahlten sie ihre Miete Monat um Monat, Jahr um Jahr, bis sie endlich innerlich so weit waren, den Entrümpelungsservice zu rufen, den man hier vom Haus kostengünstig angeboten bekam. Er jedenfalls hatte diesen heimlichen Plan bereits gefasst. Was er nicht hatte abschätzen können, war, wie lange er brauchen würde, um sich zu erlauben, Brigittes Sachen einfach wegzuwerfen. All diese kleinen Möbel, die Bilder, der Nippes, die ihre Welt ausgemacht hatten und ihm, der selten zu Hause gewesen war, kaum vertraut vorkamen. Die Bücher, die ihm nichts sagten, die Kleider, die sie am Ende gar nicht mehr tragen konnte. Das gute Geschirr, das sie nur zu Weihnachten und an ihren Geburtstagen aufgetragen hatte, damit nichts davon kaputtging. Es war vollzählig eingecheckt in MyPlace. »Herzlichen Glückwunsch«, murmelte Steinberger, während er durch die Gänge ging und nach seiner Raumnummer suchte. Da war sie ja, die 187. Das Einzige, was ihn dort drin interessierte, war der Inhalt der Schuhschachteln, die er in das hintere Lagerregal geräumt hatte wie ein ordentlicher Buchhalter. Alles abgeschlossene Fälle. Bis auf einen.

      Steinberger kramte nach dem Schlüsselbund, dann hielt er inne. Doch er hörte nur Stille, keine Schritte. Es musste Einbildung gewesen sein. Wer außer ihm sollte sich auch interessieren für die kleinen Notizbücher, in denen er alles festgehalten hatte, was sich während seiner kriminalistischen Untersuchungen ereignet hatte. Sie hatten ihm hervorragende Dienste geleistet. Manche hatte er wieder und wieder durchgeblättert, vor und zurück, bis die Bindung aufgegeben hatte und das Papier speckig geworden war. Er hatte es sich früh zur Gewohnheit gemacht, alles zu notieren, die Fragen, die ihm durch den Kopf schossen, die Antworten, die er erhielt, jedes kleine Detail an einem Tatort, noch das Nebensächlichste, wie den zweiten Vornamen eines Zeugen, ein Muttertagsgeschenk, die Texte von den Zetteln am Kühlschrank, das Datum eines Strafzettels und die Adressen und persönlichen Daten von jedem, jedem, jedem, mit dem er sprach. Es gab keine Nebensachen, es gab nichts Unwichtiges.

      Alles, was in seinem Kopf war, war da aus gutem Grund, es hatte sich seinen Weg durch das Unbewusste bis in die Vorzimmer seiner Gedanken gegraben. Diese Leistung honorierte Steinberger, indem er sie notierte. Es war immer zu etwas gut gewesen. Manchmal lag der Schlüssel zu einem Fall in so einem Detail, manchmal war es einfach hilfreich, um eine Anklage wasserdicht zu machen, in anderen Fällen hatte es ihm geholfen, die Menschen zu verstehen und ihre Motive zu ergründen. Er liebte seine Hefte. Doch er hatte sich von ihnen getrennt. Er hätte sonst nie aufgehört, in ihnen zu blättern.

      Seine Frau hatte manchmal ihre Hand auf seine blätternden Finger gelegt, wenn sie abends nebeneinander im Bett gelegen waren. Sie auf dem Rücken liegend, am Ende nur noch an die Decke starrend, weil die Bücher ihr zu schwer geworden waren. Er halb aufrecht sitzend, lesend und sich eifrig Notizen machend. Er erinnerte sich an ihre Hand. Die Haut sehr fein, fast durchsichtig, am Ende ein wenig gelb. Die Adern hatten sich darauf abgezeichnet wie auf Putz verlegte Kabel, dunkel und rund. Blaugrüne Flecken, die monatelang nicht weggingen, wo die Infusionen danebengelaufen waren. Ihre bis zuletzt schlanken, eleganten Handgelenke, meist umspielt von einer Rüschenmanschette.

      Diese Hand hatte ohne Vorwarnung seine berührt, hatte sich leicht niedergelassen, das Blättern aufgehalten, es unmöglich gemacht. Meist hatte er eine Weile innegehalten, hatte versucht, die Unzufriedenheit und innere Unruhe niederzukämpfen und zu akzeptieren, dass er aufhören sollte. Manchmal hatte er kommentarlos das Heft weggelegt, das Licht ausgemacht, sich mit knappem Gruß auf die Seite gedreht. Manchmal war er, wenn ihr Atem ruhig und gleichmäßig ging, leise wieder aufgestanden, um im Wohnzimmer weiterzuarbeiten. Manchmal …

      Er schüttelte die Erinnerung ab, drehte den Schlüssel, öffnete die Tür. Der Weg durch die Kartons zum Regal war mühsam, aber er hatte schon von Weitem gesehen, was er suchte: die Jahreszahl 1992. Das Jahr des Bankraubs. Das Jahr, in dem der Junge auf dem Skateboard gestorben war, ohne dass je der Mörder überführt worden wäre. Das Jahr, ab dem er Peter Quent gejagt hatte.

      Steinberger ärgerte sich einen Moment, dass er die Buchladentüte stehen gelassen hatte. Er hätte nur den Inhalt verschwinden lassen sollen. Die Tüte selbst könnte er jetzt gut gebrauchen. Als er sicher war, die wichtigsten Hefte beisammenzuhaben, stopfte er sie in seine Hosen- und Manteltaschen. Bis zur U-Bahn-Station Rothenburger Straße würde das schon gehen. Wieder hörte er draußen Schritte.

      Er schlich zur Tür, lehnte sie an und lauschte. Doch wer immer es war, er bog in einen anderen Korridor ab. Noch immer leise, verschloss Mauritius Steinberger sein Abteil und machte sich auf den Weg nach draußen. Er hörte ein Türknarzen und einen Hall, dann einen Schlag. Die fremden Schritte ertönten wieder und beschleunigten. Sie waren jetzt hinter ihm. Vor ihm, in einiger Entfernung, der Ausgang. Er starrte die bunte Plastikmarkierung auf dem Boden an, die ihm den Weg wies, und beschleunigte, so gut seine Hüften das zuließen. Vier Stents, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Vier Stents in den Koronararterien. Einfach nicht dran denken.

      Wieder hatte er den Totschläger vergessen. Er schwor sich, dass es das letzte Mal wäre. Innerlich lockerte er seine Gelenke, spannte die Muskeln. Ging im Geist die Bewegungsabläufe durch. Er bekam das Bein nicht mehr sehr hoch, aber ein Tritt von ihm würde immer noch jede Kniescheibe zerschmettern. Er musste dem Angreifer nur zuvorkommen und durfte das Gleichgewicht nicht verlieren. Der Angreifer hinter ihm wurde schneller. Steinberger ebenfalls. Er begann zu zählen. Bei drei würde er unvermutet anhalten, den Verfolger auflaufen lassen, ihm den Ellenbogen in den Solarplexus rammen, sich herumwerfen, zutreten. Er durfte nicht zu Boden gehen. Er durfte keinen Schlag abbekommen, seine Knochen würden brechen wie Zweige.

      »He, Sie!«

      Steinberger verharrte so abrupt, wie er es sich vorgenommen hatte. Dem Mann hinter ihm gelang es gerade noch, nicht in ihn hineinzulaufen. »Ho, ho!«, rief er und riss die Arme hoch. Er war von schwabbeliger Statur, die von der Arbeitskleidung mit den vielen Taschen und Schlaufen nur mühsam zusammengehalten wurde. Eine Rolle schwarz behaarter Bauch quoll zwischen der Cargohose und der Dienstjacke heraus. In einer der erhobenen Hände hielt der Mann ein Klemmbrett. Sein Gesicht war bleich, als lebte er hier unter dem Kunstlicht, die schwarzen Haare halblang und fettig. »Sie …«, keuchte er. Jetzt neigte er sich vor und stemmte die Hände auf die gebeugten Knie, um besser zu Atem zu kommen. »Sie haben sich nicht angemeldet.«

      Steinberger tastete mit zitternden Fingern in seinen prallvollen Taschen nach seinem Geldbeutel mit der kleinen Ausweiskarte.

      »Alles klar«, sagte der andere, nachdem er sie gemustert hatte. »Einen schönen Tag noch.«

      Steinberger nickte huldvoll und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie außer Atem und erregt er war. Vor seinen Augen


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