Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook). Tessa Korber

Noch einmal sterben vor dem Tod (eBook) - Tessa Korber


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ihn zu wissen. Ein wenig wie das seiner Mutter, die stets lächelte, wenn sie zu ihren Verhören ansetzte, gewiss, dass er ihr nichts würde vorenthalten können. »Ich seh dir bis ins Herz«, pflegte seine Mutter zu drohen und sein armes Herz damit unfehlbar zum Flattern zu bringen. Er hatte diese Technik später manchmal selbst gegenüber Verdächtigen angewandt. Sie wirkte unfehlbar.

      »Ich bin immer in der Nähe«, erklärte Irina Staufert. »Falls Sie irgendetwas brauchen.« Steinbergers Herz fand für kurze Zeit zur alten Arrhythmie, ehe er es fest in die Hand nahm und dankte.

      Er erhielt einen weiteren Flyer mit allen Serviceleistungen der Etagenbetreuerinnen und warf ihn in den jungfräulichen Mülleimer.

      Der darauffolgende Besucher war ein distinguierter Herr, der sich als Doktor Titus Mahltzahn vorstellte und ihn mit ernster Miene auf die Möglichkeit aufmerksam machte, sich dem Kulturkreis anzuschließen und auch als Mäzen für das vielfältige Programm vor allem im Bereich klassischer Musik aufzutreten. »Es gibt einen Konzertsaal mit ausgezeichneter Akustik, in dem ausgezeichnete Ensem­bles spielen.«

      »Ausgezeichnet«, erwiderte Steinberger. Das Wort »Geld« fiel nicht; man verstand sich auch so. Doktor Mahlt­zahn erwies sich als durchaus informiert darüber, dass Steinberger vom Bundespräsidenten empfangen worden sei. Und einen Orden des Sultanats Brunei sein Eigen nenne, wo er die Umstrukturierung der Polizei als externer Fachmann betreut hatte. Steinberger dagegen behielt für sich, dass er unter einem Klassiker am ehesten das 11:0-Schützenfest des Clubs gegen den VfV 06 Hildesheim im Viertelfinale des DFB-Pokals 1962 verstand. Herr Mahlt­zahn hinterließ einen Überweisungsauftrag und eine Ausgabe des hauseigenen Kulturmagazins. Beides hinterließ Steinberger an nicht mehr jungfräulicher Stelle.

      Schon ein wenig müde öffnete er auf das vierte Klingeln hin, gefasst darauf, dass das Physiotherapeutenteam sich vorstellen würde oder der Leiter der hiesigen Bank­filiale ihn vielleicht persönlich zur Kontoeröffnung beglückwünschte. Es war eine kleine Frau mit Rollator, beinahe im 90-Grad-Winkel über ihr Gefährt geneigt. Ein Buckel dellte ihr ansonsten makelloses Twinset in Puderrosa aus. Eine blonde Perücke, glatt wie ein Helm, zierte ihren Kopf, die Perlenkette schwang frei vor dem faltigen Hals. »Im Park liegt ein Toter«, verkündete sie. »Gleich in den Rosen. Den fressen jetzt die Wildschweine. Die Welt wird verrückt.«

      Steinberger räusperte sich, während er nach einer Antwort suchte.

      »Ich spinne nicht«, erklärte sie schnell, »ich bin völlig klar. Mörder und Diebe, überall. Aber ich darf ja nichts sagen.« Ihr Blick wanderte schnell von rechts nach links. Ihre linke Hand, bemerkte er jetzt, fleckig und zerknittert, mit starken gelben Nägeln, rieb und zupfte ohne Unterlass am Kunststoffgriff des Rollators. Er schien mehrmals geflickt worden zu sein und war mit Klebeband umwickelt. Ein dickes Goldarmband zeigte, wie sehr sie zitterte, während ihre Finger, wie ferngesteuert, ihr Zerstörungswerk unablässig verrichteten. Jetzt bemerkte Steinberger auch, dass sie rastlos von einem Fuß auf den anderen trat.

      »Ich bin sicher ...«, begann er in seinem beruhigendsten Bass.

      »Schweinehunde«, durchkreuzte sie seinen Versuch. »Allesamt. Und Sie brauchen sich gar nichts einzubilden. Die besuchen Sie jetzt nur, weil Sie ein Promi sind. Bald sind Sie so einsam wie wir alle.« Abrupt riss sie ihr Gefährt herum und schlurfte davon.

      Erleichtert sah Steinberger, dass sie sich keiner der benachbarten Türen näherte, sondern vor dem Aufzug stehen blieb. Sie drückte ungeduldig immer wieder die Knöpfe. Aber als das leise Pling ertönte, mit dem die Tür sich aufschob, blieb sie auf halbem Weg hängen. Irgendetwas verhinderte, dass sie den Aufzug betrat. Steinberger beobachtete eine Weile, wie die Tür sich mehrmals zuzuschieben drohte und immer im letzten Moment wieder aufglitt. Die kleine Dame schimpfte, fuchtelte und trat dagegen. Er seufzte innerlich, dann ging er los, um ihr beizustehen. Die Polizei, dein Freund und Helfer, so schnell wurde man das nicht los.

      Als er am Lift stand, erkannte er das Ausmaß ihres Pro­blems. Der ganze weiträumige Aufzug, auf pflegebedürftige und behinderte Menschen eingestellt, war vollgestopft mit Gestalten wie jener, die ihn vergebens zu betreten suchte: Alte Männer und Frauen, in Anzügen und guten Kleidern, mehr oder weniger gebückt über ihre Rollatoren, standen dort dicht aneinandergedrängt und versuchten verzweifelt, die sich ineinander verhakenden Räder und Rollen auseinanderzuhalten. Man schob und zerrte, zupfte und lupfte, blickte argwöhnisch um sich, forderte Platz und verlangte Rücksichtnahme. Steinberger zweifelte daran, dass der ineinander verkeilte Haufen je wieder auseinanderfinden würde.

      Der leicht entzündete Blick eines Mannes, der hilflos verrenkt in der Mitte gefangen war, traf den seinen: »Essenszeit«, sagte er resigniert.

      »Mahlzeit!« Steinberger schob seine Besucherin mit einem nachdrücklichen Ruck in das Knäuel, sah die Tür vor die danteske Höllenszene gleiten und beschloss gerade, so lange es möglich war, die Treppe zu nehmen, als er, kurz bevor die Gleittür sich ganz geschlossen hatte, ein weiteres Gesicht sah. Eines, das seine Pupillen sich weiten und seinen Mund sich unwillkürlich öffnen ließ. Doch alles, was er hätte sagen können, hätte er dem Metallrücken der Tür sagen müssen.

      2

      Es dauerte eine Weile, bis Mauritius Steinberger den Abstieg aus dem achten Stock bewältigt hatte. Den größten Teil der Zeit verbrachte er auf einer Toilette neben dem Küchentrakt, wo er bemüht war, seinen Atem wieder zu normalisieren und seinen Knien das Zittern auszutreiben. Auf keinen Fall würde er Peter Quent hyperventilierend gegenübertreten.

      Als es so weit war, schlüpfte er unauffällig in den weitläufigen Speisesaal. Er sah geneigte silberhaarige Köpfe, weiße Tischdecken, Blumengestecke, Weinkelche, Kochmützen und Servierschürzen, alles, was es brauchte, um das gepflegte Ambiente eines Hotels zu simulieren. Gestört wurde es nur von den vielen umherstehenden Gehhilfen. Angespannt musterte er die lichten Scheitel und gefurchten Gesichter. Das Gesicht von Peter Quent entdeckte er nicht.

      Eine Servicekraft mit gestärkter Schürze wurde auf ihn aufmerksam und führte ihn, sein dringendes Sich-Umschauen missdeutend, an seinen Tisch, wo er aufgefordert wurde, zwischen den drei Tagesmenüs zu wählen. Seine Tischgenossen stellten sich vor und ermunterten ihn, ein wenig Konversation zu treiben. Das Gespräch plätscherte bald dahin, gebändigt durch gute Erziehung und Hinfälligkeit. Der eine oder andere funkelnde Blick traf ihn, doch Steinberger verstand es, ihn nicht zu erwidern. Außerdem war er nicht recht bei der Sache. Noch immer schweifte sein Blick durch den Saal. Es war die alte Gewohnheit des Jägers: Auf der Suche nach dem Wild, hinter dem er her war, musterte er den Rest rasch, sortierte und katalogisierte ihn und schob ihn als irrelevant beiseite. Bei ihm am Tisch saßen: die Spitznasige, der Besserwisser, die »Arme« – nach ihren wiederholten Bekundungen – und ein Mr. Siemens. Keiner von ihnen hatte das Zeug zum Gewalttäter. Keiner war Peter Quent. Doch Steinbergers Suche im weiteren Kreis blieb ebenfalls ergebnislos. Niemand sah Quent auch nur ähnlich. Verdächtig immerhin wirkte ein Mann mit Krücke und Freizeitkleidung, der mit einem prall gefüllten Rucksack zum Essen kam, den er dicht an sein heiles Bein stellte und in Abständen streichelte. Was da wohl drin war?, fragte sich Steinberger. Eine Frage, die ihn bei einer seiner Observationen interessiert hätte. Aber er war nicht beruflich hier. Er war nie mehr beruflich irgendwo.

      Als er beim Dessert angelangt war, hatte sich schon die Ahnung Bahn zu brechen begonnen, dass er einer Verwechslung aufgesessen war, dem Aufblitzen einer Erinnerung, einer Freud’schen Fehlleistung. Peter Quent war nicht hier.

      Am Fenster saß zwar ein Mann, der Quents Statur hatte, mittelgroß und schlank, von Natur aus elegant, und der eine ähnliche Neigung besaß, den Kopf hocherhoben zu halten. Doch das war auch alles. Am Nachbartisch ertönte ein ganz ähnliches Lachen, laut und raumgreifend, aufmerksamkeitsheischend. Da, dort hinten, nahe der Tür, war ein ungewöhnlich voller weißer Schopf auszumachen, über einer braun gebrannten Stirn. Aber Peter Quent gehörte er nicht.

      Die Neigung Quents zu altmodisch-gutbürgerlicher Kleidung war gleich an mehreren der anwesenden Männer zu entdecken. Damals, Anfang der Neunziger, als Steinberger dem Bankraub in Lauf nachgegangen und auf Quent als Verdächtigen gestoßen war, hatte der Freizeitlook begonnen, seinen Siegeszug in der Mittelschicht anzutreten.


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