Jona und der unverschämt barmherzige Gott. Timothy Keller
anders war als die, die ihnen vertraut waren. Gott befiehlt Jona, „nach Ninive, der großen Stadt“ zu gehen und gegen sie zu predigen. Dies war gleich in mehrfacher Hinsicht ein Schock.
Der erste Schock war, dass hier ein hebräischer Prophet aufgefordert wird, Israel zu verlassen und in eine heidnische Stadt zu reisen. Bis jetzt hatte Gott seine Propheten nur zu seinem eigenen Volk geschickt. Jeremia, Jesaja und Amos verkündigten zwar ein paar prophetische Botschaften an heidnische Länder, doch die waren kurz, und keiner dieser Propheten musste sich selbst in diese Länder begeben. So etwas wie diesen Auftrag an Jona hatte es noch nie gegeben.
Ein noch größerer Schock ist die Warnung, die der Gott Israels vor dem Untergang an Ninive, die Hauptstadt des Assyrischen Reiches sendete. Assyrien war eines der grausamsten und gewalttätigsten Reiche der Antike. Seine Könige ließen ihre militärischen Siege oft dokumentieren und weideten sich an den mit Leichen übersäten Schlachtfeldern und niedergebrannten Städten. Der berühmte Herrscher Salmanassar III. ist besonders durch große Steinreliefs bekannt, die detaillierte Folterszenen und zerstückelte und enthauptete Feinde abbilden. Die Geschichte Assyriens ist „so blutrünstig und grauenvoll wie kaum etwas anderes, was wir kennen.“5 Wenn sie Feinde gefangen genommen hatten, schlugen die Assyrer ihnen mit Vorliebe beide Beine und einen Arm ab, damit sie dem sterbenden Opfer zynisch die verbliebene Hand schütteln konnten. Freunde und Verwandte wurden gezwungen, die abgeschlagenen Köpfe ihrer hingerichteten Lieben öffentlich auf Stangen durch die Straßen zu tragen. Die Assyrer rissen den Menschen die Zunge heraus und streckten die Leiber der Gefangenen mit Seilen, um ihnen anschließend bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen, die darauf an der Stadtmauer aufgehängt wurde. Sie verbrannten Jugendliche bei lebendigem Leib.6 Diejenigen, die die Zerstörung ihrer Städte überlebten, wurden auf grausame Art versklavt. Man bezeichnete das Assyrische Reich daher auch als einen „Terrorstaat“.7
Die Assyrer begannen während der Herrschaft des Königs Jehu (842–815 v. Chr.), dem Nordreich Israel hohe Tributzahlungen aufzuerlegen und auch während der gesamten Lebenszeit Jonas fuhren sie fort, Israel zu bedrohen. 722 v. Chr. fielen sie schließlich in Israel ein und zerstörten es samt seiner Hauptstadt Samaria.
Gerade diese Nation ist nun das Ziel von Gottes missionarischem Auftrag an Jona! Gott befiehlt ihm, gegen Ninive wegen seiner großen Bosheit zu „verkündigen“. Dennoch wusste Jona (4,1-2), dass es für Gott keinen Grund gegeben hätte die Stadt zu warnen, wenn nicht die Möglichkeit bestand, dass das Gericht noch abgewendet werden konnte. Aber wie konnte ein guter Gott einem solchen Volk auch nur die kleinste Chance auf Gnade geben? Warum, um alles in der Welt, sollte Gott den Erzfeinden seines Volkes helfen?
Doch das, was vielleicht am meisten überrascht, ist die Identität dessen, den Gott da sendet. Es ist Jona, der „Sohn des Amittai“. Mehr erfahren wir nicht über Jona, was bedeutet, dass wir auch nicht mehr Hintergrundwissen benötigen. In 2. Könige 14,25 lesen wir, dass Jona in der Regierungszeit von König Jerobeam II. von Israel (786–746 v. Chr.) wirkte. Dort erfahren wir auch, dass er – anders als die Propheten Amos und Hosea, die das Königshaus wegen seiner Ungerechtigkeit und Untreue zu Gott kritisierten – Jerobeams aggressive Militärpolitik zur Ausdehnung der Macht und des Einflusses Israels unterstützte. Die ursprünglichen Leser des Buchs Jona werden ihn als patriotischen Nationalisten in Erinnerung gehabt haben.8 Sie werden darüber gestaunt haben, dass Gott einen Mann wie Jona ausgerechnet zu dem Volk schickte, das er am meisten fürchtete und hasste.
Nichts an Jonas Auftrag ergab Sinn. Fast konnte man ihn als bösartiges Komplott deuten. Wenn ein Israelit auf diese Idee gekommen wäre, man hätte ihn bestenfalls geächtet und schlimmstenfalls hingerichtet. Wie konnte Gott von jemandem verlangen, die Interessen seines Landes derart zu verraten?
Gottes Auftrag verweigern
In einer ganz bewussten Parodie des Rufes Gottes: „Steh auf, geh nach Ninive“, steht Jona tatsächlich auf und geht – aber in die entgegengesetzte Richtung (Vers 3). Man nimmt an, dass Tarschisch am äußersten westlichen Rand der damals den Israeliten bekannten Welt lag.9 Kurz gesagt: Jona tat das genaue Gegenteil von dem, was Gott ihm befohlen hatte. Gott hatte ihn nach Osten gerufen, Jona ging nach Westen. Der Weg nach Osten führte über Land, Jona fuhr über das Meer. In die große Stadt geschickt, kaufte er stattdessen eine Fahrkarte ans Ende der Welt.
Warum verweigerte Jona den Gehorsam? Genaueres über seine Gedanken und Motive wird Jona selbst uns später mit eigenen Worten mitteilen. Fürs Erste lädt uns der Text ein, uns selbst Gedanken zu machen, und wir können uns vorstellen, dass der Auftrag für Jona weder praktisch noch theologisch Sinn ergab.
Hier wie später nennt Gott Ninive die „große“ Stadt, und sie war in der Tat groß, ein militärisches und kulturelles Megazentrum. Warum sollten ihre Bewohner auf jemanden wie Jona hören? Wie lange hätte ein jüdischer Rabbi sich halten können, der 1941 mitten in Berlin auf offener Straße eine Bußpredigt an die Nazis gehalten hätte? Praktisch gesehen waren Jonas Erfolgsaussichten gleich null, das Risiko zu sterben hoch.
Auch auf theologischer Ebene muss es für Jona unmöglich gewesen sein, einen Sinn in seinem Auftrag zu sehen. Erst vor einigen Jahren hatte der Prophet Nahum vorhergesagt, dass Gott Ninive wegen seiner Bosheit zerstören würde.10 Für Jona wie für ganz Israel muss Nahums Vorhersage durchaus Sinn ergeben haben. War Israel nicht Gottes erwähltes und geliebtes Volk, durch das er seinen Plan in der Welt ausführte, und war Ninive nicht eine durch und durch böse Gesellschaft, die sich auf Kollisionskurs mit dem Herrn befand? War Assyrien nicht selbst nach damaligen Maßstäben außergewöhnlich gewalttätig und unterdrückerisch? Natürlich würde Gott es zerstören, das war doch klar und (wie Jona gedacht haben muss) beschlossene Sache. Warum dann dieser Auftrag? Würde seine erfolgreiche Ausführung nicht Gottes eigene Verheißungen zunichtemachen und Nahum als falschen Propheten dastehen lassen? Wie, um alles in der Welt, konnte dieser Auftrag gerechtfertigt sein?
Gott misstrauen
Jona hatte also ein Problem mit dem Job, den er bekommen hatte. Aber ein noch größeres Problem hatte er mit demjenigen, der ihm den Job gegeben hatte.11 Jonas Schlussfolgerung war: Wenn er keine guten Gründe für Gottes Befehl sehen konnte, konnte es auch keine geben. Jona hatte Zweifel an Gottes Güte, Weisheit und Gerechtigkeit.
Wir alle haben so etwas schon erlebt. Wir sitzen im Sprechzimmer unseres Arztes und sind schockiert von den Untersuchungsergebnissen. Unsere nächste Bewerbung ist gescheitert, und wir fragen uns, ob wir je noch einmal den ersehnten Arbeitsplatz finden werden. Wir fragen uns, warum die scheinbar perfekte Beziehung – die, nach der wir so lange gesucht hatten und die wir schon nicht mehr für möglich gehalten hatten – auf einmal doch wieder in die Brüche geht. Und wir denken: Wenn es einen Gott gibt, dann weiß er nicht, was er tut! Und wenn wir uns mal von unseren Lebensumständen wegwenden und uns mit den Lehren der Bibel befassen, dann scheint es, vor allem für moderne Menschen, dass auch die Bibel voll von Behauptungen ist, die nicht viel Sinn ergeben.
Wenn dies geschieht, müssen wir uns entscheiden: Weiß Gott, was das Beste ist, oder wissen wir es selbst am besten? Wenn wir unserem menschlichen Herzen folgen, dann kommen wir zu der Schlussfolgerung, dass wir es wissen. Wir bezweifeln, dass Gott gut ist oder dass er es gut mit uns meint, und wenn wir keine guten Gründe für das sehen, was Gott gerade sagt oder tut, dann gehen wir davon aus, dass es eben auch keine gibt.
Das ist genau das, was Adam und Eva im Garten Eden taten. Das erste Gebot, das Gott den Menschen gegeben hat, lautete: „Du darfst die Früchte aller Bäume im Garten essen. Nur von dem Baum, der zur Erkenntnis von Gut und Böse führt, darfst du nicht essen. Sobald du das tust, wirst du sterben!“ (1. Mose 2,16-17). Da war die Frucht, und sie sah „gut zu essen“ aus, war eine Augenweide und „verlockend“ (1. Mose 3,6) – und Gott hatte keinen Grund genannt, warum es falsch war, sie zu essen. Und so kamen Adam und Eva zu dem Schluss, dass, wenn sie sich keinen guten Grund für ein Gebot Gottes vorstellen konnten, es keinen geben konnte – so wie viele Jahre später Jona auch. Sie konnten nicht darauf vertrauen, dass Gott das Beste für sie wollte. Und so aßen sie die Frucht.