Lew Jaschin. Dietrich Schulze-Marmeling

Lew Jaschin - Dietrich Schulze-Marmeling


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bezüglich Jaschinas Alter waren schnell zerstreut. Wir begrüßten eine hellwache Dame, die deutlich jünger wirkte als 87 – vor allem geistig. Ihr Erinnerungsvermögen war phänomenal, ihre Antworten präzise. Und wie ihr Mann ist sie eine große Persönlichkeit.

      Jaschina entschuldigte sich zunächst dafür, dass sie kaum Deutsch sprechen würde: „In der Schule war ich eine der besten Schülerinnen“, was wir ihr ohne Umschweife abnahmen. „Wir haben auch Deutsch gelernt. Aber ich habe wenig behalten. Mir fehlte die Praxis.“ Lew, ihr Mann, habe überhaupt keinen formalen Schulabschluss besessen und keine Fremdsprache gelernt – bedingt durch den Krieg. Aber er habe sich trotzdem problemlos mit allen Menschen verständigen können. Obwohl er eigentlich ein zurückhaltender Mann gewesen sei. „Jemand hat mal gesagt, Lew spräche die Sprache des Fußballs.“

      Anschließend wurden wir gefragt, ob wir etwas essen möchten. „Nein, alles in Ordnung. Nur eine Tasse Kaffee. Aber was ist mit Ihnen?“ „Ich möchte nichts essen. Aber möchten Sie wirklich nichts essen?“ „Nein danke, wirklich nicht, wir haben noch keinen Hunger.“ Es war erst zwölf Uhr Mittag, das Frühstück lag gerade zwei Stunden zurück. Erst später wurde ich gewahr, dass unser höflich und bescheiden gemeintes „Nein“ vermutlich unhöflich war. Denn Jaschina wollte uns einladen. Verrückt, wo doch wir etwas von ihr wollten und nicht umgekehrt – russische Gastfreundschaft.

      Jaschina hatte uns etwas mitgebracht. Eine Broschüre von Dynamo über Lew und Postkarten mit seinem Porträt. Als Lothar bemerkte, dass ihr Lew nicht nur ein großartiger Torwart gewesen sei, sondern auch gut ausgesehen hätte, schaute Walentina uns etwas ungläubig an: „Na ja, später vielleicht …“

      Ich zeigte ihr ein Foto, das man von Seeler und mir im Restaurant in Norderstedt aufgenommen hatte. Ob Sie den Mann neben mir erkennen würde. Über Jaschinas Gesicht huschte ein Lächeln: „Seeeeler!“ Nach dem Tod ihres Mannes hätte sie noch einige Zeit in Kontakt mit den Seelers gestanden. Aber irgendwann habe sich dieser dann verlaufen …

      Wir redeten nicht nur über Lew, sondern auch über ihr Leben. Walentina Jaschina arbeitete beim staatlichen Rundfunk, wo sie drei Sendungen moderierte. Die erste widmete sich politischen und wirtschaftspolitischen Themen aus der Region Moskau. Die zweite Menschen, die in ihrem Beruf große Erfolge feiern konnten. Bei der dritten zögerte sie: „Darf ich das sagen? Die Sendung hieß Partei-Tribüne. Es ging um Nachrichten aus der Partei. Moskauer Parteifunktionäre kommentierten aktuelle Ereignisse.“

      Nach einer guten Stunde bat Walentina um eine Zigarettenpause – nachdem sie sich vorher noch über das „schrecklich viele Rauchen“ ihres Mannes beklagt hatte. Ich beneidete in diesem Moment Lothar darum, dass er noch immer rauchte, während meine letzte Zigarette nun schon 20 Jahre zurücklag. Was wäre das für eine Geschichte gewesen! Gut 50 Jahre nach der WM in England, als ich Jaschin erstmals in Aktion sah, bewunderte und ihn zu imitieren versuchte, stehe ich mit der Witwe des Torwarts des 20. Jahrhunderts auf einer Moskauer Straße und rauche mit ihr bei zehn Grad minus eine Zigarette. Wie Frau Jaschina vor dem Restaurant in ihrem eleganten Pelzmantel stand und sich von Lothar eine Zigarette anstecken ließ, erinnerte ich mich daran, dass Rauchen in meiner Kindheit ein Ausweis von Modernität und bei Frauen auch von Emanzipation war. Und dass ich als Kind bedauerte, dass meine Mutter nicht rauchte. (Meine Mutter spielte auch nicht Tennis. Wir wohnten auch in keinem Flachdach-Bungalow und hatten auch keine Hollywoodschaukel auf unserer Terrasse.)

      Ich fragte Jaschina nach Lews Verhältnis zu den deutschen Nationalspielern – zu Seeler, Beckenbauer, Schnellinger und Schulz. Ja, Schnellinger, den habe ihr Mann gemocht. „Der hatte einen guten Humor.“ Beckenbauer sei damals für sein Buch über seine Freunde und seine Gegner bei ihnen zu Hause gewesen. Als ich ihr erzählte, dass ich nicht verstehen könnte, warum ihrem Mann bei den Spielen mit der Europaund Weltauswahl besonders an einem guten Verhältnis mit den deutschen Spielern gelegen war, trotz des Überfalls der Deutschen auf die Sowjetunion, trotz der Millionen Toten, antwortete Jaschina mit einem sehr gerade auf mich gerichteten Blick: „Wir betrachteten die Deutschen nicht als Feinde, sondern als Freunde. Wir haben Deutschland nicht als ein Land gesehen, gegen das wir Krieg geführt haben.“ Die Klarheit und Bestimmtheit, in der sie dies aussprach, war beeindruckend, aber auch irritierend. So richtig werde ich diesen generösen Umgang mit der Geschichte und den Verbrechen meiner Vorfahren nie begreifen.

      Wir haben dann doch noch gegessen. Das von Jaschina empfohlene „Business-Menü“. Preiswert und exzellent. Dabei erzählte sie uns, dass sie dieses Restaurant öfters besuchen würde. Es liege in der Nähe ihrer Wohnung, in der sie bereits seit über 50 Jahren lebe. Im Übrigen habe sie in diesem Restaurant auch ihren 80. Geburtstag gefeiert …

      Nach gut zweieinhalb Stunden verabschiedeten wir uns von Jaschina, auf die ihre vier Urenkel warteten. Zum Abschied sagte sie uns: „Lew wusste die Aufmerksamkeit seiner internationalen Freunde sehr zu schätzen. Ich sende hiermit den Deutschen meine herzlichen Grüße!“

      Für Lothar, diesen qualmenden Glückspilz, gab es dann noch eine Verlängerung. Eine weitere Zigarette mit Frau Jaschina draußen vor der Tür – bei klirrender Kälte, aber unter einem wolkenfreien blauen Himmel und bei strahlender Sonne.

      * * *

      Kaum zurück in Deutschland, erhielt ich aus Moskau eine E-Mail von Lothar, der wie ich aus dem Ruhrgebiet stammt, aber aus völlig anderen sozialen Verhältnissen. „Gestern Abend ging mir noch einmal das Treffen mit Frau Jaschina durch den Kopf. Als ich um die zehn Jahre alt war und wir auf der Wiese in unserer Wohnanlage Fußball spielten, hatte jeder eine bestimmte Rolle, der eine war Pelé, der andere Seeler, wieder ein anderer war Gento. Wenn ich im Tor stand, war es überhaupt keine Frage, dass ich Lew Jaschin war. Hätte mir damals jemand erzählt: ‚Du wirst mal in gut 50 Jahren in Moskau vor einem Café stehen und gemeinsam mit Lew Jaschins Frau eine Zigarette rauchen‘, ich hätte ihn nicht verstanden. Erstens waren die Jaschins für mich schon richtig alt, ich hätte nicht geglaubt, dass einer von beiden so lange leben würde, zweitens wusste ich gar nicht, wo Moskau liegt, drittens habe ich damals noch gar nicht geraucht, und zu guter Letzt war die Idee, dass ich als damals Zehnjähriger jemals über 60 Jahre alt werden würde, so weit weg von meiner empfundenen Realität, dass ich wahrscheinlich nur gesagt hätte: ‚Du spinnst.‘ Ist schon echt unglaublich, wie das Leben manchmal so spielt. Völlig unberechenbar, zumindest mein Leben.“ Ja, völlig unberechenbar, und nicht nur seins.

      * * *

      Bei folgenden Personen, die mir in irgendeiner Weise bei diesem Buch geholfen haben, möchte ich mich ganz herzlich bedanken: Bernd Beyer, Oxana Grischenko, Hardy Grüne, Rainer Holzschuh, Ulrich Matheja, Willi Schulz, Uwe Seeler, Gottfried Weise, Manfred Zeller sowie Birgit Althoff und Lothar Szych, die in Moskau fantastische Gastgeber waren. Vor allem die Abendessen (einschließlich „Russen-Disco“) werden meine Frau Lisa und ich nicht so schnell vergessen. Moskau ist keine Stadt, in die man sich auf Anhieb verliebt. Aber eine sehr interessante Stadt. Sie wird uns wiedersehen.

       Dietrich Schulze-Marmeling Februar 2017

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       Zu Besuch bei Walentina Jaschina. Neben ihr sitzt Autor Dietrich Schulze-Marmeling, gegenüber Dolmetscherin Oxana Grischenko und Lothar Szych.

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       Die nach dem Dynamo-Stadion benannte U-Bahn-Station in Moskau.

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       Jaschin (rechts) mit seinem Vorgänger und Lehrmeister: „Tiger“ Alexander Khomich.

       KAPITEL 1

       Russischer und sowjetischer Fußball vor Lew Jaschin

       Lew Jaschin verbrachte seine Zeit als Vereinsfußballer komplett bei Dynamo Moskau, dem Klub des Geheimdienstes bzw. des Innenministeriums und bis in die 1970er Jahre einer der


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