Lew Jaschin. Dietrich Schulze-Marmeling
war damit die erste sowjetische Mannschaft, der ein Sieg gegen westeuropäische Profis gelungen war, wodurch die Popularität des Klubs weiter stieg.
Beria gegen Spartak
Die Begegnungen gegen die Basken 1937 öffneten den Sowjets die Augen, wie sehr man mittlerweile der kontinentalen Entwicklung hinterherhinkte. Für die UdSSR galt noch immer, was Walter Benjamin 1926 in seinem „Moskauer Tagebuch“ geschrieben hatte: „Unzweifelhaft weiß man in Russland über das Ausland weit weniger als man im Ausland (etwa mit Ausnahme der romanischen Länder) von Russland weiß. Man ist hier vor allem damit beschäftigt, in dem ungeheuren Territorium selbst den Kontakt der Arbeiter und Bauern unter sich herzustellen.“
Die Prawda resümierte nach der Abreise der Basken: „Es ist klar, daß eine Qualitätsverbesserung der sowjetischen Teams Spiele gegen ernsthafte Gegner erfordert. Die Spiele gegen die Basken waren von großem Nutzen für unsere Spieler.“ Der sowjetische Fußball erfuhr nun eine Modernisierung – insbesondere in taktischer Hinsicht. So wurde das einst von Herbert Chapman bei Arsenal London kreierte W-M-System übernommen. Zunächst war es vor allem Spartak, das von den Basken lernte. 1938 und 1939 wurde der Klub Meister. Dynamo dagegen schwächelte in diesen Spielzeiten – Fünfter 1938, nur Neunter 1939.
In diesen Jahren gerieten Spartak und Dynamo vollends in die Mühlen der Politik. 1936 bis 1938 rollte eine staatliche Terrorwelle über das Land, die sich gegen „Abweichler“ in Politik, Militär, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Kultur richtete. Schauprozesse wurden veranstaltet und Zehntausende im Zuge der „Großen Säuberungen“ ermordet. Von den 1.966 Delegierten, die Anfang 1934 am 17. Parteitag der KPdSU teilnahmen, waren zum Zeitpunkt des 18. Parteitags 1939 nur noch 30 Prozent am Leben. Der „Große Terror“ löschte fast die gesamte revolutionäre Elite von 1917 aus. An ihre Stelle traten stalintreue Apparatschiks.
Auch Dimitri Schostakowitsch geriet in die Schusslinie von Stalin und seinem Gefolge. Obwohl in der Stalin-Ära offiziell die Nummer eins der sowjetischen Komponisten, musste er wiederholt um seine Freiheit und sein Leben fürchten. Im Januar besuchte Stalin eine Aufführung von Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, die dem Führer der Sowjetunion überhaupt nicht gefiel: „Das ist Chaos und keine Musik!“ In der Prawda erschien eine ausführliche Abrechnung mit dem Werk. „Diese ‚linke‘ Disharmonie der Oper entspringt der gleichen Quelle wie die ‚linke‘ Disharmonie in der Malerei, der Poesie, der Pädagogik und Wissenschaft. Die kleinbürgerliche ‚Neuerungssucht‘ führt zur Abkehr von der echten, authentischen Kunst, Wissenschaft und Literatur. (…) Der Komponist bediente sich der nervösen, verkrampften und hysterischen Jazzmusik, um die ‚Leidenschaft‘ seiner Helden zu zeigen. In einer Zeit, in der unsere Kritiker um den sozialistischen Realismus kämpfen, stellt das Werk von Schostakowitsch einen vulgären Naturalismus dar.“
Der Komponist suchte Zuflucht beim Fußball: „Das Stadion ist in diesem Land der einzige Ort, wo man laut die Wahrheit über das sagen kann, was man sieht.“ Katja Petrowskaja: „Diese ‚Wahrheit‘ dokumentierte er in Form einer privaten Fußballstatistik. Mit wissenschaftlichen Methoden und Klassifizierungen bilanzierte er alles fein säuberlich in Zeilen und Spalten, die ein ganzes Buch füllten: die Ergebnisse der Spiele, die Punktzahlen, das Torverhältnis und sogar die Namen der Torschützen, die damals im Sinn des Kollektivsports in kaum einer Sportzeitung erwähnt wurden.“ Schostakowitschs Fußballleidenschaft erreichte in den Jahren des „Großen Terrors“ ihren Höhepunkt. Er erwarb alle Fußballzeitschriften, deren er habhaft werden konnte. Wann immer sich die Möglichkeit bot, lauschte er den Fußballreportagen am Radio. Vom Aussehen her kannte er Hunderte von Spielern, viele auch persönlich. Schostakowitsch schrieb dem Ingenieur und verhinderten Fußballstar Valentin Kogan 53 mehrseitige Fußballbriefe, die häufig in einem größeren Kreis vorgelesen wurden, und verfasste Fußballreportagen. Katja Petrowskaja: „Seine Fußballreportagen waren offenbar so professionell, dass einige von ihnen den Weg in die wichtigsten Zeitungen des Landes fanden.“
Der berüchtigste von Stalins Apparatschiks war Lawrenti Beria, der am 25. November 1938 Leiter des Innenministeriums (NKWD) wurde. In dieser Funktion unterstanden ihm Polizei, Geheimpolizei, Miliz, die Gefängnisse und die Lager des Gulag-Systems – und auch Dynamo. „Beria war (…) eine der unzivilisiertesten Gestalten der sowjetischen Geschichte. Wenn er nicht gerade (…) Menschen in einer Säuberungsaktion beseitigte, fuhr er entweder in seiner Limousine kreuz und quer durch Moskau und griff junge Mädchen auf, oder er sah sich Fußballspiele an.“ (Simon Kuper)
Beria war ein fanatischer Fußballfan. In den 1920ern hatte er selbst gespielt und war dabei Nikolai Starostin begegnet. Starostin erinnerte sich später an einen „technisch schwachen, aber sehr groben linken Läufer“. „Die Entstehung des Gegensatzes zwischen Spartak und Dynamo fällt in ebenjene Zeit, als Lawrenti Beria den bisherigen Geheimdienstchef Nikolai Jeschow ablöste, wodurch auch der Komsomol unter Alexander Kosarew unter Druck geriet, der in diesen Jahren der wichtigste Patron von Spartak Moskau war.“ (Manfred Zeller)
Beria neidete Spartak Popularität und Erfolg. Insbesondere der Schaukampf auf dem Roten Platz und Spartaks Sieg über die Basken hatten den Geheimdienstchef eifersüchtig gemacht. Fortan ließ er nichts unversucht, um Dynamo eine Vormachtstellung zu verschaffen. Kasmir Wasilewski, Chef der Kooperative, die Spartak unterstützte, und Alexander Kosarew, Vorsitzender der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol und einer der Architekten Spartaks, wurden im Zuge von Säuberungen verhaftet. Kosarew half auch nicht, dass er ein glühender Stalin-Verehrer war. Der Komsomol-Chef wurde am 3. Februar 1939 im Moskauer Lefortowo-Gefängnis erschossen. Auch Wasilewski wurde hingerichtet.
Beria griff zudem direkt ins Spiel ein. Im Halbfinale des sowjetischen Pokals besiegte Spartak Dynamo Tiflis durch ein umstrittenes Tor mit 1:0. Der georgische Klub verzichtete auf einen Protest. Anschließend gewann Spartak auch das Finale gegen Stalinez Leningrad mit 3:1. Für Beria war dies zu viel. Wenige Tage später entschied das Innenministerium, dass das Halbfinale Spartak gegen Tiflis wiederholt werden müsste. Der Schiedsrichter der ersten Begegnung, der ehemalige Dynamo-Spieler (!) Iwan Gorelkin, wurde verhaftet. Doch auch bei der zweiten Auflage behielt Spartak mit 3:2 die Oberhand. Thomas Urban, Journalist der Süddeutschen Zeitung und Osteuropa-Experte, zitiert Nikolai Starostin mit der Erinnerung: „Als ich zur Ehrentribüne hochblickte, sah ich, wie Beria aufsprang, seinem Sitz wütend einen Tritt verpasste und zum Ausgang stürmte.“
Im März 1942 ließ Beria die vier Starostin-Brüder verhaften. Ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten versucht, „bourgeoise Moral in den sowjetischen Sport einzuschleppen“. Nikolai Starostin wurde zu zehn Jahren Zwangsarbeit im Gulag verurteilt. Auch seine Brüder wurden ins Lager geschickt.
Berias Kampf gegen Spartak führte dazu, dass Dynamo von vielen Fußballfans als Klub der herrschenden Ordnung und des Apparats betrachtet wurde, Spartak als Klub des Volkes. Manfred Zeller: „Spartak war sehr populär, da sich Moskauer mit dieser Stattteilmannschaft gerne identifizieren mochten, die Anfang der zwanziger Jahre gegründet und im Unterschied zu vielen anderen nicht aufgelöst wurde. Dynamo wurde ebenfalls Anfang der 1920er Jahre gegründet, 1923, war aber klar als Mannschaft der Geheimpolizei, der Tscheka, markiert.“
Boris Arkadiew, der Modernisierer
Berias Eingriffe waren aber nicht der einzige Grund, warum Dynamo 1940 wieder die Führung in der Liga übernahm. Auf dem Rasen war der Schlüssel zum Erfolg der Trainer: Boris Arkadiew, der Modernisierer des sowjetischen Fußballs schlechthin. Arkadiew trainierte Dynamo bis 1943. Von 1944 bis 1952 führte er dann den Lokalrivalen ZDKA zu einer Serie von Titeln.
Arkadiew leitete eine Art Perestroika im sowjetischen Fußball ein, indem er das W-M-System weiter verfeinerte. Man habe in die erstarrte englische Erfindung die russische Seele geblasen, schrieb der erste große Theoretiker des sowjetischen Fußballs später. Arkadiews Buch „Taktiken des Fußballs“ avancierte in den ersten Nachkriegsjahren zur „Bibel der osteuropäischen Trainerzunft“, schreibt der Taktikexperte Jonathan Wilson.
Arkadiew modifizierte das W-M-System, indem er die Raumdeckung und Positionswechsel einführte. Im Dynamo-Spiel war viel Bewegung und wurde ein präzises Passspiel gepflegt,