Lew Jaschin. Dietrich Schulze-Marmeling
für die Theorie im Fußball gelernt. (…) In jeder Situation muss man versuchen, nicht irgendeinen Zug zu machen, sondern den besten. Genauso sollte ein Fußballer, wenn er spielt, nach der besten Lösung suchen.“ Schach sei mit seinen vielen Steinen „eigentlich auch ein Mannschaftsspiel. Das Schachspiel wird erst richtig schön, wenn die Figuren gut zusammenarbeiten und nicht, wenn eine von ihnen ganz allein übers Brett spaziert.“
Auch der ehemalige Bundesligaprofi und Nationalspieler Marco Bode sieht Parallelen zwischen Schach und Fußball: „Aus der gleichen Startposition heraus wird immer wieder nach uralten unveränderten Regeln gespielt – doch nach wenigen Zügen entstehen Stellungen, die völlig neu und einmalig erscheinen. Dann begibt man sich auf die Suche nach einer Strategie, versucht seine eigenen Figuren so auf dem Schachbrett zu positionieren, dass sie in einer Weise zusammenwirken, die das plötzliche Erkennen von Kombinationen erlaubt, um die gegnerische Stellung zu ‚knacken‘. Da der Gegner merkwürdigerweise genau das Gleiche tut, entsteht ein stetiger Wechsel aus Angriff und Verteidigung. Letztlich entscheidet die bessere Strategie, die genauere Kombination, oft genug aber auch fehlende Aufmerksamkeit über Sieg oder Niederlage.“
Sibirien
Am 18. Dezember 1940 erteilt Hitler die Weisung Nr. 21 an die Wehrmacht, „auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen.“ Am 22. Juni 1941 überfallen die Deutschen mit drei Millionen Soldaten und ohne Kriegserklärung die Sowjetunion. Rumänien, Italien, die Slowakei, Finnland und Ungarn schließen sich dem Angriff an und schicken weitere 600.000 Soldaten in die Schlacht. Das „Unternehmen Barbarossa“ ist kein Krieg wie andere. Der Journalist und Autor Joachim Käppner: „Dies war ein Krieg, der nicht wie so viele vor ihm dem Gewinn von Territorien, Rohstoffen, Macht diente. Es war ein Krieg neuen Typs, in dem es keinen Ausgleich geben konnte und keinen Kompromiss und dem Angegriffenen nicht einmal Aufgabe und Kapitulation blieben, um das Schlimmste abzuwenden. Das Schlimmste war ihnen bereits vorbestimmt: die Ermordung und Versklavung ganzer Völker. Wehe den Besiegten. ‚Es handelt sich um einen Vernichtungskampf‘, hatte Hitler Kommandeuren der Wehrmacht schon im März 1941 erklärt.“ Wehrmachtsgeneral Erich von Manstein befiehlt 1941 seinen Soldaten: „Das jüdisch-bolschewistische System muss ein für allemal ausgerottet werden.“ Käppner: „Holocaust und Vernichtungskrieg gehörten untrennbar zusammen.“
In den ersten Wochen des Krieges verzeichnet die Wehrmacht gewaltige Geländegewinne. Bis Mitte Oktober machen die Deutschen nach mehreren Kesselschlachten drei Millionen Gefangene. Aber der rassistisch motivierte Überfall stärkt Stalins Stellung. Das Volk rückt an die Seite des Diktators. Schnell wird klar, dass aus einem „Blitzsieg“ nichts wird. Die Wehrmacht trifft auf einen unerwartet zähen Willen zum Widerstand. Im Dezember 1941 erleiden die Deutschen vor Moskau eine empfindliche Niederlage. Das Blatt wendet sich immer mehr zugunsten der Roten Armee. Anfang 1943 verliert die Wehrmacht die Schlacht um Stalingrad und bezahlt mit der Vernichtung ihrer sechsten Armee.
Wegen der deutschen Invasion wird die Fabrik, in der Lew Jaschins Vater arbeitet, im Herbst 1941 nach Uljanowsk an der Wolga evakuiert; daher muss die Familie Jaschin dorthin umziehen. Dem Vater bleibt dadurch die Teilnahme am „Großen vaterländischen Krieg“ erspart, denn als Spezialist in der Schleiferei ist er unersetzlich.
Im Herbst 1943 wechselt der knapp 14-jährige Lew Jaschin von der Schulbank in die Fabrik, um in der Kriegsproduktion zu helfen. Der Krieg verhindert einen formellen Schulabschluss. Er wird Schlosserlehrling an der Werkbank des Flugzeugmotorenwerkes „Roter Oktober“. Jaschin: „Als ich mit 14 Jahren, 1943, die Schule verließ, dachte niemand an Fußball. Ich war ein dünnes hungerndes Bürschchen, der Krieg hatte in Moskau die Not in allen Familien zu einem ungebetenen Gast gemacht.“
In Sibirien beginnt Jaschin mit dem Rauchen. Seine Witwe Walentina erzählte dem Autor, dass ihr Mann die ersten Glimmstengel von seinem Vater bekommen habe. „Die Männer mussten häufig an der freien Luft arbeiten. Dort war es bitterkalt. Lews Vater hatte Angst, dass sein Sohn an der Maschine vor Erschöpfung einschlafen und sich verletzen würde. Er ermunterte ihn zum Rauchen, damit er wach bleiben würde.“ Später qualmt Jaschin täglich bis zu 80 Zigaretten.
Torwart-Premiere im Krieg
Erst 1944 kehrt die Familie Jaschin nach Moskau zurück. Im selben Jahr steht Lew erstmals im Fußballtor. Bei einem Spiel zwischen den Mannschaften der verschiedenen Abteilungen des Werkes wird der Junge zwischen die Pfosten geschickt. Gegen seinen Willen. Jaschin: „Wie alle Kinder in Moskau hatte auch ich zunächst auf der Straße gekickt. Meine frühesten Erinnerungen sind die an verrückte Spiele. Ich hätte wirklich gerne als Stürmer gespielt, weil ich es liebte, Tore zu schießen, aber wegen meiner Größe und Sprungkraft war ich dazu bestimmt, Torwart zu sein. Die Chefs der Mannschaft haben mir diese Entscheidung aufgedrückt.“ Jaschin macht seine Sache gut. „Ich habe mir dann vorgenommen, kein Tor reinzulassen und mich trotzdem möglichst wenig in den Dreck zu werfen. Also habe ich mir gedacht: Das kannst du nur mit Köpfchen. Und irgendwie hat’s geklappt.“
Mit 16 bekommt er ein Magengeschwür und wird zur Kur ans Schwarze Meer geschickt. Ursache ist die schlechte Qualität der Lebensmittel, möglicherweise aber auch bereits das Rauchen. Magenprobleme werden ihn sein Leben lang verfolgen.
Derweil verliert die deutsche Wehrmacht weitere Schlachten im Osten. Am 22. Juni 1944, dem „Barbarossatag“, startet die Rote Armee eine Großoffensive, die wenige Tage später in der Zerschlagung der Heeresgruppe Mitte mündet. Am 16. April 1945 beginnt der Umfassungsangriff gegen Berlin und leitet den Untergang des Nazi-Reichs ein. Am 2. Mai kapituliert Berlin. Zwei Tage später erzwingt Stalin die bedingungslose Gesamtkapitulation. In zweifacher Ausfertigung: am 7. Mai vor den Westallierten im französischen Reims, und in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai vor dem sowjetischen Oberkommandierenden in Berlin-Karlshorst. Jaschin: „Als uns am 9. Mai 1945 die Meldung vom Sieg unserer Armee über den Hitlerfaschismus erreichte, eilte ich in die Stadt. Im Zentrum sangen wir, umarmten uns. Immer wieder schrien wir: ‚Sieg! Frieden!‘ Die Freude wollte kein Ende nehmen.“
Aber sein Land bezahlt einen enormen Preis für den Sieg über den Nationalsozialismus. Ab dem 22. Juni 1941 sind in der Sowjetunion ca. 27 Millionen Menschen ums Leben gekommen, in der Mehrheit Zivilisten. Und der Verlierer hinterlässt eine verbrannte Erde. „Ansiedlungen wurden dem Erdboden gleichgemacht, Fabriken gesprengt, Schachtanlagen geflutet, Eisenbahnverbindungen unterbrochen, demontiert, unbrauchbar gemacht. Nach einer sowjetischen Verlustbilanz fielen ihr [der Strategie der ‚verbrannten Erde‘, Anmerk. d.A.] 70.000 Dörfer, 1.700 städtische Ansiedlungen, 32.000 Betriebe und Industrieunternehmen, 98.000 Kolchosen, 1.900 Sowchosen, 2.900 Maschinen- und Traktorenstationen, 765.000 km Eisenbahnverbindungen zum Opfer. 25 Millionen waren obdachlos.“ (Helmut Altrichter)
Der Jaschin-Entdecker: Arkadi Tschernischow
Nach dem Krieg ziehen die Jaschins von Sokolniki nach Tuschino, um näher am Werk zu sein. 1947 wird Lew zum Wehrdienst einberufen. Stationiert ist er in Moskau, wo er als Mechaniker bei der Luftwaffe dient. Jaschin wird nun Torwart des Luftwaffen-Teams „Flügel der Sowjets“.
Hier wird er von Arkadi Iwanowitsch Tschernischow entdeckt. Tschernischow ist keine Legende des Fußballs, sondern des Eishockeys: Als Assistenz- und Cheftrainer der sowjetischen Eishockey-Nationalelf führt er diese während seiner zwei Amtszeiten 1954–57 und 1961–72 zu vier Olympiasiegen und elf Weltmeistertiteln. Tschernischow, weltweit einer der erfolgreichsten Eishockeytrainer, begann seine Sportkarriere als Fußballer und Bandyspieler. Bandy ist ein Vorläufer des heutigen Eishockeys und entstand im Mittelalter in den Fens des englischen Ostens. Größe des Feldes, Anzahl der Spieler und Spielzeit entsprechen aber mehr den Regeln des Fußballs als des Eishockeys oder Hockeys. Außerdem wird nicht mit einem Puck gespielt, sondern mit einem kleinen Ball. Während das Spiel in Ländern mit milden Wintern allmählich verschwand bzw. komplett dem in der Halle gespielten Eishockey wich, blieb es in Russland und Schweden unverändert populär. Tschernischow wurde 1937 mit Dynamo im Sommer sowjetischer Fußballmeister und im Winter Bandy-Champion. Im Fußball feierte er diesen Triumph noch einmal 1940, im Bandy 1938, 1940 und 1941.
1945 wechselte er zum FK Dynamo Minsk, spielte aber auch noch für Dynamo