Lew Jaschin. Dietrich Schulze-Marmeling
Khomich wird Jaschins zweiter Lehrmeister. Iwanow: „Zwischen den beiden Torhütern gab es eine besonders starke Bindung: Der ‚Tiger‘ hatte in Jaschin seinen Nachfolger erkannt und ihn fast zwei Jahre lang ‚aufgebaut‘. Khomich hatte Jaschins eisernen Willen und Eifer bald erkannt. Die Folge war, dass der ‚Tiger‘ von seinem Schüler nur noch mehr forderte. Denn dieser Bursche, das war ihm klar, war genau der richtige Typ, den Dynamo im Tor benötigte. Und er sollte alles beherrschen können!“
Dynamo in Ostberlin
1951 spielt Dynamo Moskau erstmals auf deutschem Boden. Anlass sind die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ostberlin. Es sind nach Prag 1947 und Budapest 1949 die dritten Festspiele dieser Art, deren Träger der „Weltbund der demokratischen Jugend“ ist. Erstes Großereignis ist ein Freundschaftsspiel der noch jungen DDR-Auswahl gegen Dynamo Moskau, das nun von Wiktor Dubinin trainiert wird. Jaschin ist als dritter Keeper mitgereist.
Das Neue Deutschland kündigt Dynamo als „das beste Team der Welt“ an. Die Gäste trainieren auf dem Paul-Zobel-Sportplatz in Pankow, benannt nach dem von den Nazis im KZ Dachau zu Tode gefolterten Kommunisten, Widerstandskämpfer und Arbeitersportfunktionär. Das Neue Deutschland berichtet: „Die mit 21 Spielern und 3 Trainern erschienenen Sowjetsportler zeigten eine kleine Probe ihres überragenden Könnens, obwohl – wie ihr Betreuer erklärte – es sich nur um ein leichtes Konditionstraining handelte. Vor dem Balltraining hatten sie bereits ihre Gymnastikübungen absolviert, wobei im Gegensatz zum Training der deutschen Mannschaft jeder Spieler seine eigene Übung ausführte.“ Für die ca. 100 Zuschauer sei es fast unmöglich gewesen, „unter den drei Torstehern Khomich, genannt ‚Tiger‘, herauszufinden, da sie sich in den tollkühnen Paraden kaum nachstanden. (…) Besonderen Eindruck hinterließ der Ernst und Eifer, mit dem die Sowjetsportler ihr Training betrieben. Niemals unterbrach einer von ihnen das Training oder beschäftigte sich auch nur wenige Minuten mit anderen Dingen.“
Das Kräftemessen mit der DDR-Auswahl findet im erst im Mai 1950 eröffneten Walter-Ulbricht-Stadion statt. Im Volksmund firmiert es bald als „Zickenwiese“, angelehnt an Ulbrichts eigenwilligen Spitzbart. (1973 wurde das Stadion nach einem Umbau als „Stadion der Weltjugend“ wiedereröffnet. Inzwischen wurde die DDR von Erich Honecker regiert. Bei der SED-Spitze war der Stalinist Ulbricht in Ungnade gefallen, weshalb sein Name aus der DDR-Öffentlichkeit getilgt wurde.)
Am Sonntag, dem 5. August, kommen 80.000 in die im Stadtbezirk Mitte gelegene Schüssel, zum größten Teil sind es Jugendliche aus 104 Ländern (einschließlich der Bundesrepublik), und sehen einen 5:1-Sieg der Dynamo-Mannschaft. Für die DDR erzielt Heinz Satrapa den Ehrentreffer: „Ich freue mich, dass ich dem berühmten ‚Tiger‘ Khomich einen Treffer in die Maschen setzen konnte.“ Das Neue Deutschland: „Die deutschen Spieler waren von der fairen Spielweise und dem hohen Niveau der sowjetischen Fußballer begeistert.“ Heinz Schoen, Mittelläufer der DDR-Auswahl: „Die Kondition der sowjetischen Freunde war überragend. Auch in der Ballführung sind sie Weltklasse. Ich hatte es sehr schwer, mich auf den überragenden Dribbelkünstler Beskow einzustellen.“ Und Hans Siegert, Trainer der DDR-Auswahl: „Die sowjetischen Sportler zeichnete ihr ausgezeichneter Kollektivgeist aus. Sie waren in ihrer Einzelleistung ebenso gut wie im Mannschaftsspiel. Hervorragend ist der Aufbau des Sturmspiels aus der Hintermannschaft heraus.“ Alfred Kunze schwärmt in der Neuen Fußball-Woche: „Wir sahen beste Fußballkunst, die in wunderbarer Weise die Zweckmäßigkeit mit der Schönheit verband. Wir sind um eine große Erfahrung und um ein großes Erlebnis reicher. Wir sprechen immer von den vier Komponenten des Fußballspiels: Technik, Taktik, Kondition, Siegeswille. Auf jedem dieser Gebiete hat uns die sowjetische Mannschaft viel gezeigt. (…) Wir – unsere elf Spieler und auch alle sachkundigen Zuschauer – wissen jetzt, was das Spiel ohne Ball bedeutet.“ Aber Dynamo ist nicht nur sportlich eine Sensation, sondern mit den knielangen Hosen und blauen Trikots mit dem geschwungenen silbernen „D“ auch modisch eine Klasse für sich – jedenfalls im Osten.
Fünf Tage später misst man sich erneut, und erneut schauen 80.000 zu. Diesmal gewinnt Dynamo „nur“ mit 2:0. Die DDR-Nationalelf verkauft sich gut, findet aber bei ihren blitzschnellen Kontern in Khomich ihren Meister. Ein Teil des Publikums verhält sich nicht im Sinne der Weltfestspiele, indem es frenetisch das heimische Team anfeuert, was der sozialistische Verhaltenskodex und die brüderliche Verbundenheit mit der UdSSR nicht vorsieht. Das Neue Deutschland: „Ein Teil der Zuschauer zeigte sich nicht auf der Höhe des schönen, fairen und kämpferischen Spiels und nahm am Spielgeschehen in völlig einseitiger Weise Anteil. Damit bewiesen sie nur, dass sie die alte üble nationalistische Überheblichkeit noch immer nicht überwunden haben. Sie zeigten, dass ihnen das Bewusstsein von den elementarsten Pflichten eines Gastgebers abgeht. Dies wiegt umso schwerer, als es jedem Deutschen eine selbstverständliche nationale Pflicht sein sollte, sich des großen Vertrauens der Jugend der Welt und vor allem des großen Sowjetvolkes würdig zu erweisen.“
Puck statt Ball
In Dynamos Fußballhierarchie kommt Jaschin an Khomich und Walter Sanaja vorerst nicht vorbei, weshalb Eishockey seine Hauptbeschäftigung wird. Tschernischow: „Die Stammtorhüter der Dynamo-Klubmannschaft stellten seinerzeit Extraklasse dar, Khomich u. a., so dass Jaschin zunächst nicht zum Zuge kam. Ich beeilte mich nicht, ihn ‚anzubieten‘. Ließ ihn Eishockey spielen – nun auch hier im Tor. Er entpuppte sich als großartiger letzter Mann, und binnen ein paar Wochen war er die Nummer eins in der Mannschaft.“
Zwei Winter, 1951/52 und 1952/53, hütet Jaschin den kleinen Drahtkäfig des Eishockeyteams. Am 6. März 1953 wird Dynamos Eishockeyteam mit Jaschin im Tor sowjetischer Pokalsieger. Die Meisterschaft beendet Dynamo als Dritter. Jaschin wird später dazu eingeladen, mit dem sowjetischen Nationalteam zur Eishockeyweltmeisterschaft 1954 nach Stockholm zu fahren. Es ist das erste WM-Turnier, bei dem die UdSSR dabei ist. Und auch das erste, das sie als Weltmeister beendet. Mit der WM 1954 löst die Sowjetunion Kanada als dominierende Eishockey-Macht ab – ohne Jaschin im Tor, aber mit Arkadi Tschernischow als Trainer. Tschernischow 16 Jahre später, anlässlich des 40. Geburtstags von Jaschin: „Ich bin überzeugt, dass Lew, wäre er beim Eishockey geblieben – 1953 war er da unser bester Torwart – eine ebenso großartige Entwicklung genommen hätte. Lew war ein seltenes Talent, das vom Dynamoklub unterstützt und gefördert wurde.“ Der Ausflug aufs Eis ist nicht umsonst: Für Jaschin war „das Eishockey-Intermezzo eine gute Schule. Hier erwarb ich Kühnheit, schnelle Reaktion.“
Aber ebenfalls 1953 verkündet der nun 33-jährige Khomich seinen Rücktritt. Der „Tiger“ geht zunächst zu Spartak Minsk. Nach dem Ende seiner Karriere wird er Sportfotograf für Sowjetski Sport und fährt in dieser Funktion zu den WM-Turnieren 1970, 1974 und 1978.
Am 2. März 1953, vier Tage bevor Jaschin mit Dynamo den Pokal im Eishockey holt, feiert er im heimischen Stadion gegen Lokomotive Moskau eine gelungene Rückkehr ins Tor der ersten Fußballmannschaft. Er entscheidet sich nun komplett für den Fußball. Tschernischow: „Leider wechselte er die Zunft. (…) Die Liebe zum Fußball war größer. Es kam die Zeit, wo sich die Fußballtrainer wieder auf Lew besannen. Es machte großen Spaß, mit ihm zu arbeiten, und ich freue mich, dass ich ihn zur Liebe zum Fußball und zum Eishockey erzogen habe.“ Jonathan Wilson ist überzeugt: „Wäre Khomich noch ein weiteres Jahr länger geblieben, hätte die Entscheidung auch gut andersherum ausfallen können.“
Jaschin wird Dynamos neue Nummer eins – vor Walter Sanaja, der 1946 von Dynamo Tiflis zum Namensvetter in Moskau gestoßen war. Sanaja ist vier Jahre älter als Jaschin, misst aber auch zehn Zentimeter weniger. 1953 macht Jaschin 13 Ligaspiele und gewinnt im Herbst mit Dynamo den Pokal. In diesem Jahr wurde er somit zweifacher Pokalsieger: als Eishockeyspieler und als Fußballer. Anschließend will ihn sein Trainer nicht mehr auf dem Eis sehen, weil er um die Knochen seines neuen Stars fürchtet. Sanaja, der immer weniger Einsätze bekommt, wechselt 1954 zurück nach Tiflis und lässt anschließend seine Karriere bei Neftjanik Baku ausklingen. Seine Tochter Marina ist als Eiskunstläuferin bei den Olympischen Winterspielen 1972 dabei.
Jaschin ist nun de facto Profi. Walentina Jaschina: „Als Fußballspieler hat Lew natürlich nie gearbeitet. Die Spieler waren zwar offiziell keine Berufsspieler. Sie waren formal bei Ministerien