Natti. Camilla Gripe
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Camilla Gripe
Natti
Deutsch von Birgitta Kicherer
Saga
1
Ostern stand vor der Tür, die Osterzweige mit ihren bunten Federn leuchteten in den Schaufenstern und wollten so gar nicht zu dem Schneematsch draußen auf den Straßen passen.
In einer Boutique in Gamla Stan, der historischen Altstadt von Stockholm, verpackte die Ladeninhaberin Annette eine purpurfarbene Abendbluse in Seidenpapier.
»Handwäsche, nur dreißig Grad«, sagte sie zu der Kundin. »Und tropfnaß aufhängen.«
Ihre Hände flatterten um den glänzenden Stoff, sorgfältig, aber routiniert. Ihre Augen wanderten zu dem kleinen grauen Viereck aus Licht, das durch die Oberlichte der Tür hereindrang. Dann senkte sich ihr Blick und folgte den nassen Spuren, die von der Tür an den Ladentisch führten, wo die pelzbekleidete Kundin stand, eine jugendlich aufgemachte Dame mittleren Alters in modischen italienischen Stiefeln. Vermutlich eigene Unternehmerin, wie sie selbst. Inhaberin eines Frisiersalons. Oder möglicherweise Zahnärztin. Der Preis der Bluse hatte sie jedenfalls nicht abgeschreckt.
Annettes Vermutungen über den Beruf der Kundin waren genauso automatisch und routiniert wie ihr Umgang mit den Kleidern. Daß man die Kundschaft einschätzen lernte, gehörte zum Beruf.
»Ist das ein Wetter! Man kann kaum glauben, daß bald April ist«, bemerkte die Dame.
»Nein, die Leute trauen sich ja kaum aus dem Haus«, sagte Annette mit einem kleinen Seufzer.
Während der letzten Tage waren die Kunden nur spärlich hereingetröpfelt. Trotz Ostern.
Aber jetzt läutete die Ladenglocke, und eine kleine graue Gestalt schlüpfte herein. Die Dame im Pelz nahm ihre Tüte und nickte zum Abschied. Sie verließ die Boutique mit einem raschen abschätzenden Blick auf die Gestalt an der Tür und einem vielsagenden Kopfschütteln in Annettes Richtung. Dieser Neuankömmling würde wohl kaum besonders einträglich fürs Geschäft sein, schien das ausdrücken zu wollen.
Das Mädchen, denn es war ein Mädchen, stand mit hochgezogenen Schultern neben einem der Kleiderständer. Die schwarzumrandeten Augen blickten düster auf den Ladentisch, von der nassen Jacke tropfte Schneewasser auf ein Paar Wildlederstiefel hinab, die den Kampf ums Dasein schon längst aufgegeben hatten. Über dem weißen Gesicht spreizten sich die traurigen Überreste einer ehemals »starken« Frisur. Die ganze Gestalt strahlte Verlassenheit aus, wie eine entlaufene, halbverwilderte Katze. Sie hatte die Hände tief in die Taschen der unförmigen Jacke gerammt.
»Natti!« rief Annette und runzelte bekümmert die Augenbrauen.
»Tag«, erwiderte die Angesprochene.
Eine kleine, weiße Hand tauchte aus der Jackentasche auf und begann nervös an den aufgehängten Kleidern herumzuzupfen. Ihre Fingernägel waren mit schwarzem Nagellack dekoriert, der teilweise bereits wieder abblätterte.
Annette erschauerte.
»Du siehst fürchterlich aus!« sagte sie.
»Weiß ich selbst«, kam die mürrische Antwort.
»Was hast du eigentlich getrieben, Natti? Gestern abend habe ich immer wieder angerufen, aber es war entweder besetzt, oder niemand hat sich gemeldet.«
»Ach, nichts Besonderes. Hab nur ein paar Kumpel dagehabt ...«
Annette seufzte ein weiteres Mal und begann, Seidenkordeln an einem Haken neben dem Ladentisch aufzuhängen. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen war schärfer geworden. Die Kordeln wanden sich wie dünne bunte Schlangen zwischen ihren gepflegten Fingern.
»Also, im Ernst, Natti, wäre es nicht doch besser, wenn du für diese Zeit zu mir herausziehen würdest? Du scheinst jemanden zu brauchen, der nach dir schaut! Papa ist erst seit drei Tagen verreist, aber du siehst aus, als wärst du seit einem halben Jahr herumvagabundiert!«
»Na und! Nur weil ich keine Zeit gehabt hab, mich zu kämmen. Und bei diesem Sauwetter sieht doch eh kein Mensch ordentlich aus! Nein, ich hab keine Lust, jeden Tag so weit in die Stadt reinzufahren. Da draußen bei dir kenn ich keinen Menschen. Und ich bleib ja sowieso nur noch eine Woche allein. Übrigens, was für ein Tag ist heute eigentlich?«
»Mittwoch. Morgen ist Gründonnerstag.«
»Oh, schon Mittwoch!«
Nattis Stimme überschlug sich. Die schwarzumrandeten Augen füllten sich mit Entsetzen.
»Aber Natti! Um was geht es denn? Was ist mit dir los?«
»Ach was, mit mir ist nichts los ... das heißt ... ich ...«
Die halbverwilderte Katze begann nach Rückzugsmöglichkeiten zu suchen. Sie bewegte sich langsam auf die Tür zu. Der einladenden Menschenhand war vielleicht doch nicht so recht zu trauen.
»So, jetzt raus mit der Sprache! Irgendwas ist los, das sieht ja ein blindes Huhn! Du wolltest doch etwas ganz Bestimmtes von mir?«
Natti machte wieder ein paar zögernde Schritte auf den Ladentisch zu. Die Schultern schossen in die Höhe, auf die Ohren zu, die Hände verkrochen sich wieder in den Taschen. Verteidigungshaltung.
»Also, ich würde dringend etwas Kohle brauchen ... nur geliehen, meine ich ... es ...«
»Ach? Komisch! Hat Papa dir denn nichts gegeben, bevor er und Kerstin abgereist sind? Er ist doch sonst alles andere als knauserig.«
Annette stützte sich mit fragendem Gesicht auf den Ladentisch. »Er hat’s irgendwie vergessen. Da kam so viel anderes dazwischen. Kerstin hat Migräne bekommen und so, du weißt schon ...«
Annettes lange Fingernägel klopften irritiert auf den Ladentisch. »Vergessen! Soll das etwa heißen, daß er vergessen hat, dir Geld zu geben, bevor sie abgereist sind?«
Das Mädchen wand sich vor Unbehagen und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Tür.
»Vergessen nicht direkt, aber ... Also, sie haben zuwenig im Haus gehabt, und dann bekam sie Migräne, und da hat’s nicht mehr für die Bank gereicht. Aber wenn du nichts ... Also, ich wollte es ja sowieso bloß leihen ...«
»Sind sie ohne Geld abgereist? Wie eigenartig! Wieviel hast du denn jetzt?«
Halber Rückzug. Die Hand auf dem Türgriff.
»Fünfzig ungefähr ... Ach was, vergiß es, Mama! Es wird auch so gehen ...«
Hinter Natti ging die Tür auf. Sie sprang rasch zur Seite, um drei Damen Platz zu machen. Dabei verspritzte sie ein wenig Schmelzwasser, wie ein nasser Hund, und die Damen brachten sich rasch in Sicherheit.
»Komm gleich nach dem Lunch zurück«, sagte Annette bestimmt. »Dann geh ich rasch auf die Bank. Das hier müssen wir klären!«
2
Aus Nattis Tagebuch
Geld von Papa | 800,– |
Gespartes | 130,– |
Kleingeld ungefähr | 3,– |
Summe | 933,– |
Ausgaben vor der Katastrophe:
Neue Hose | 350,– |
Pulli | 119,10 |
Haargelee, rosa, grün | 57,– |
Augenbrauenstift | 25,– |