Natti. Camilla Gripe
kurz. Könnte vielleicht irgendwann Anwendung finden. Sie hatte Kerstin noch nie darin gesehen. Natti hielt das Kleid ein Weilchen vor sich hin, während sie überlegte, ob es auf elegante Art häßlich war oder einfach nur ein spießiger Fetzen. Dann ließ sie es auf einen Stuhl fallen. Jetzt mußte sie sich am Riemen reißen. Es ging schließlich nicht um das Kleid, sondern um den Rock.
Und um den Hauswirt!
5
Als die Frau des Hauswirts die Tür öffnete, erblickte sie eine kleine, seltsame Gestalt in schlechtsitzenden Kleidern. Unter einem dicken grauen flauschigen Wollpulli, der bis weit über die Hüften reichte, hing ihr ein karierter, offensichtlich zu weiter Rock bis an die Knöchel herab, dann kamen dicke graue Wollsocken, die erstaunlicherweise in leuchtendroten Lackpumps mit flachen Taftschleifen steckten.
Über dem Pulli schaute ein blasses kleines Gesicht mit großen Augen zur Hauswirtin auf. Die steif abstehenden Augenwimpern erinnerten an die Sonnenstrahlen auf einer Kinderzeichnung. Die mausbraunen Haare hingen in geraden Strähnen herab, bis auf ein paar nicht ausgekämmte Korkenzieherlocken über der Stirn.
»Guten Tag«, sagte das merkwürdige Geschöpf.
»Guten Tag? Und was ...?«
»Ist er nicht daheim?«
Aha, sie wollte also zu Kennet!
Ohne Nattis intensives Kopfschütteln zu bemerken, begann die Hauswirtin ihren Sohn zu rufen. Kennet war fast noch schlimmer als der Hauswirt, fand Natti. Kennet war groß und stark und hatte ein freches Mundwerk. Er tauchte immer dann auf, wenn man ihn überhaupt nicht brauchen konnte. Harte Schneebälle mit eingebackenem Kies, das Hänseln kleiner Kinder, Schimpfworte und Beinstellen waren ein paar von seinen Spezialitäten. Die einzigen Personen, die Kennet für den anständigsten und nettesten Vertreter der jungen Generation hielten, waren seine Eltern.
Inzwischen wurde die Türöffnung von Kennets kräftiger Gestalt ausgefüllt. Er hatte einen großen Kopf mit flammendroten Haaren, und über dem breiten Mund war der Ansatz eines ebenso roten Schnurrbarts zu ahnen. Nicht einmal die großen Jungs aus der Umgebung riskierten ohne zwingenden Grund Kennets Mißbilligung.
»Da bist du ja«, sagte seine Mutter mit freundlicher Kindergeburtstagsstimme.
Kennet trat aus der Türöffnung auf Natti zu, die daraufhin ein paar Schritte zurückwich. Er musterte sie mit halb zugekniffenen Augen und verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. Seine Mutter trat diskret zur Seite und bedachte Natti mit einem freundlichen Kopfnicken, etwas, das Natti im Augenblick dringend nötig hatte.
»Wenn ihr was haben wollt, braucht ihr es nur zu sagen! Vielleicht eine Tasse Kakao?«
Als die Hauswirtin auf die Tür zusteuerte, die vermutlich in die Küche führte, blickte Natti hilflos hinter ihr drein. Da ertönte Kennets Stimme, die im Verhältnis zu seinem Körperumfang erstaunlich hell klang.
»Mama! Siehst du denn nicht, wer das ist?«
Der Blick der Hauswirtin flatterte noch ein weiteres Mal fragend über Nattis Person. Sie schüttelte den Kopf.
»Neeein ... Ich bin mir nicht ganz sicher... Kennen wir uns?«
»Okay, Muttchen! Kakao wäre nicht schlecht! Und ein paar belegte Brote mit Fleischklößchen und gebratenen Eiern! Ich erklär’s dir nachher. Und vergiß die Gurke nicht.«
Die Mutter verschwand, und Natti rückte wieder ins Zentrum von Kennets Aufmerksamkeit. Sprungbereit stand sie am Rand des Treppenabsatzes.
Kennets Augen verengten sich zu kalten grauen Strichen.
»Hast es wohl eilig, was?«
»Nein, aber eigentlich wollte ich mit deinem Vater sprechen.«
»Der ist aber nicht daheim, also kannst du auch mit mir reden!«
»Die Sache geht dich doch überhaupt nichts an«, sagte Natti und versuchte sicherer zu klingen, als sie sich fühlte.
Kennet lächelte überlegen.
»Aha. Soso! Weißt du auch, daß ich mich bloß an dich anzulehnen brauche, um dir sämtliche Rippen zu brechen? Soll ich’s mal probieren?«
»Nein, besten Dank.«
»Na, also! Um was geht es? Müßt ihr nicht demnächst ausziehen?«
»Wieso ausziehen?«
»Doch, ich bilde mir ein, mein Vater hätte so was erwähnt. Daß ihr ausziehen müßt. Bestimmt ist es das, worüber du mit ihm sprechen willst, was? Wann ihr ausziehen müßt, oder?«
Natti schnappte nach Luft. Das war entschieden zuviel. Instinktiv trat sie noch einen Schritt zurück, einen Schritt zu weit nach hinten, über den Rand der Treppe hinaus. Mit Kennets stimmbruchheiserem Wiehern im Ohr kullerte sie eine Treppenstufe nach der anderen hinunter. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihre eine Schulter. Jede einzelne der vielhundertjährigen Treppenstufen machte sich als harter Stoß bemerkbar. Als Natti endlich auf dem unteren Treppenabsatz gelandet war, blieb sie erst einmal ein Weilchen mit geschlossenen Augen liegen.
Kennets Gelächter war verhallt, sie hörte auch keine Schritte, die näher kamen, also wagte sie es, die Augen zu öffnen. Die Treppe über ihr war leer, und das helle Rechteck der geöffneten Tür dort oben war nicht mehr zu sehen. Kennet hatte es gar nicht nötig gehabt, sich an sie anzulehnen. Der bloße Gedanke hatte genügt!
Völlig zerschlagen setzte sie sich auf eine Treppenstufe. Der viel zu lange Rock hatte sich um ihre Beine gewickelt, der Pulli war verrutscht, und ein Schuh fehlte. Außer der Schulter schmerzten jetzt auch noch Hüften, Knie und Ellenbogen. Ein würdevoller Abgang war das nicht gerade gewesen, dennoch konnte sie nicht umhin, vor sich hin zu kichern, während sie ihre schmerzenden Gliedmaßen massierte.
Durch die schmutzigen Scheiben des Treppenhausfensters fiel blaßgraues Dämmerlicht auf Natti herab.
»Und was mach ich jetzt?« fragte sie laut.
Die einzige Antwort war ein monotones Summen, das vom Fenster herkam. Eine Fliege? Natti stand vorsichtig auf und stakste zum Fenster hin. In einer Ecke des Fensters zappelte eine einsame Fliege in einem dicken alten Spinnennetz. Natti stocherte mit den Fingern ein Loch ins Spinnennetz und pulte die Fliege los. Die Fliege summte in ihrer Hand weiter. An den Flügeln hingen noch ein paar graue Spinnwebfetzen. Natti setzte sich wieder und begann die Fliege sorgfältig von dieser hinderlichen Hülle zu befreien, während sie an das zurückdachte, was soeben passiert war.
Einerseits war es nur gut, daß es so gekommen war. Sonst hätte sie dort oben stehenbleiben und sich gegen Kennet behaupten müssen, und schließlich hätte Kennet sie bestimmt die Treppe hinuntergestoßen, und da wäre der Sturz vermutlich noch schmerzhafter ausgefallen.
Am schlimmsten war, daß sie es nicht wagte, noch einmal zum Hauswirt hinaufzugehen. Und wenn das, was Kennet über ihre Kündigung gesagt hatte, nun tatsächlich stimmte? Was dann? Inzwischen summte die Fliege schon etwas fröhlicher. Natti entfernte noch ein paar lästige Fäden, worauf die Fliege abhob und hoch hinauf an die Decke verschwand. Natti blickte ihr fast sehnsüchtig nach, dann zog sie die langen Pulliärmel über ihre kalten Hände und hauchte ihre Finger durch die Wolle hindurch an.
Unten ging die Haustür auf, das Licht wurde angeknipst, ein gelber Schein durch eine trübe Lampenschale, ein Hund kläffte, und schwere Schritte stapften herauf. Vermutlich Herr und Frau Persson, das waren die einzigen im Haus, die einen Hund hatten. Wieder wurde eine Tür geöffnet und geschlossen, es wurde wieder still. Natti atmete auf.
Doch unmittelbar darauf ging die Haustür unten erneut auf, abermals näherten sich Schritte. Natti erhob sich und legte die Hand aufs Treppengeländer, als wäre sie nach unten unterwegs. Wenn das jetzt der Hauswirt war! Er wohnte ja ganz oben, und die Schritte waren nach oben unterwegs. Natti bekam Herzklopfen, mit zitternden Fingern versuchte sie, ihre Kleider zurechtzuziehen.
Allmächtiger! Was sollte sie eigentlich sagen? Das hatte sie sich noch gar nicht überlegt! Die Kleidung