Joachim Löw und sein Traum vom perfekten Spiel. Christoph Bausenwein
wieder nach Kalifornien zurück, und der in Karlsruhe erfolglose Zweitligatrainer sollte nach einer Kurzzeit-Pleite im türkischen Adana versuchen, in Österreich beim FC Tirol sowie bei Austria Wien wieder in die Erfolgsspur zurückzufinden.
Bei der deutschen Nationalmannschaft trat indessen Besserung ein. Der allseits beliebte Ex-Stürmerstar Rudi Völler übernahm zunächst interimsweise das Amt des Bundestrainers für den ab 2001 vorgesehenen Leverkusener Trainer Christoph Daum, der dann schlagenzeilenträchtig gescheitert war, weil ihm Kokainkonsum nachgewiesen wurde. Unter »Ruuudi« ging es von den Ergebnissen her wieder aufwärts, auch wenn die Ästhetik des deutschen Spiels oft recht zu wünschen übrig ließ. Das glückliche Erreichen des mit 0:2 gegen Brasilien verloren gegangenen WM-Finales von 2002 musste geradezu als sensationell eingestuft werden. Doch mit der vorübergehenden Euphorie war es bald wieder zu Ende. Auf heftige Kritik nach mauen Spielen gegen Gegner wie Island und die Färöer platzte Völler mehrfach der Kragen. Mehr gebe das Potenzial des deutschen Fußballs eben nicht her, meinte er. Schließlich wurden die realen Möglichkeiten der deutschen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2004 in Portugal auf drastische Weise bloßgelegt. Die Bilanz von »Rudis Rumpelfüßlern«: eine gute Halbzeit beim 1:1 gegen die Niederlande, ein torloses Unentschieden gegen Lettland und schließlich eine demütigende 1:2-Niederlage gegen Tschechiens B-Elf – und damit ein erneutes Aus in der Vorrunde. Wer’s gesehen hat, der wird nie vergessen, wie der ratlos-deprimierte Rudi Völler nach dem letzten Spiel zu den deutschen Fans ging und achselzuckend anzeigte: »Mehr war nicht drin. Wir haben alles versucht.« Einen Tag später trat er zurück. Völler hatte eingesehen, dass nach dieser Mega-Pleite sein Kredit aufgebraucht war und er damit einem unübersehbar notwendig gewordenen fundamentalen Neuanfang nur im Wege stehen würde.
Die DFB-Führung verfiel in eine geradezu bestürzende Ratlosigkeit. Niemand hatte eine Ahnung, wer den Job nun übernehmen könnte. Denn im Grunde war der von den Fans selbst in der Pleite immer noch gefeierte Rudi Völler (»Es gibt nur ein’ Rudi Völler«) die einzig übriggebliebene Lichtgestalt am sich bedrohlich verdunkelnden Fußballhimmel Deutschlands. Viele gute Möglichkeiten blieben da nicht. DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder präsentierte zunächst seinen Wunschkandidaten Ottmar Hitzfeld als sicheren neuen Bundestrainer. Dieser sagte aber wieder ab. Nun gründete sich eine seltsame »Trainerfindungskommission«, bestehend aus Franz Beckenbauer, Werner Hackmann, Horst Schmidt und eben Mayer-Vorfelder. Allerlei Namen wurden gehandelt, unter anderem Otto Rehhagel, doch auch nach vier Wochen dilettantischen Werkelns war der DFB noch immer nicht in der Lage, einen Trainer zu präsentieren. Und dann tauchte plötzlich, ins Spiel gebracht vom Ex-Bundestrainer Berti Vogts, ein ganz neuer Name auf: Jürgen Klinsmann.
Es war die Riesenüberraschung des Fußballjahres 2004. Tatsächlich durfte der inzwischen in Kalifornien ansässige ehemalige Stuttgarter Stürmerstar, Weltenbummler (AS Monaco, Inter Mailand, Tottenham Hotspurs), Welt- und Europameister das höchste Amt in Fußball-Deutschland übernehmen. Kurz nach seiner Inthronisierung erinnerte er sich an den Viererketten-Versteher von Hennef und kürte ihn zu seinem Assistenten. Alle wunderten sich: Was wollte Klinsmann denn mit diesem Löw, den man als Spieler kaum wahrgenommen hatte, der als Trainer des VfB Stuttgart nur kurzzeitig erfolgreich gewesen und dann in der Türkei und Österreich jenseits des großen Fußballs untergetaucht und inzwischen beinahe schon vergessen war?
Der Amstantritt des Trainerteams Klinsmann/Löw war der Beginn einer radikalen Umwälzung im DFB, die bis heute anhält und zu einer begeisternden Attraktivität des deutschen Spiels geführt hat, die sich damals, im grauenvollen Sommer des Jahres 2000, wirklich niemand ernsthaft hatte vorstellen können. Damals war Joachim Löw ein Nobody, heute ist der Mann, der 2006 das Klinsmann-Erbe als Chef übernommen hat, der Liebling der Nation. So erstaunlich diese Entwicklung von außen betrachtet aussehen mag, so nachvollziehbar wird sie für den, der die innere Konsequenz des Hauptakteurs in den Fokus stellt. Den Traum vom perfekten Spiel hegte Joachim Löw schon zu einer Zeit, als er von der großen Öffentlichkeit noch gar nicht wahrgenommen wurde. Heute entfaltet er ihn in gereifter Form an höchster Stelle mit einer frappierenden Selbstverständlichkeit. Er interpretiert den Job des Bundestrainers inzwischen in einer Art und Weise, dass Amt und Person beinahe zu verschmelzen scheinen. Man kann sich kaum vorstellen, von wem er jemals ersetzt werden könnte. Und dabei weiß man nach wie vor nur sehr wenig über diesen Mann, der spätestens seit der WM 2010 beinahe wie ein natürlicher Herrscher über dem deutschen Fußball zu thronen scheint. So wird es Zeit, den Weg Joachim Löws ein wenig zu erhellen und aufzuzeigen, wie sein Traum vom perfekten Spiel sich entwickelt hat.
I. TEIL
Der Aufstieg eines Unscheinbaren
KAPITEL 1
Der unvollendete Profi
oder: Eine Spielerkarriere ohne Höhepunkte
Ein 40 Kilometer von Freiburg entfernter, kaum 3.000 Einwohner zählender Luftkurort im südlichen Schwarzwald, ein zwischen Wiesen, Bergen und Wäldern eingebettetes Urlaubsidyll zwischen dem Feldberg und der Schweizer Grenze bei Lörrach, die Stadt Schönau, ist die Heimat des späteren Bundestrainers. Hier wuchs der am 3. Februar 1960 geborene Sohn eines Ofensetzermeisters als ältester von vier Brüdern auf, hier besuchte er die Grundschule, hier war er in der Dorfkirche Ministrant, hier ging er in das Gymnasium, das er im Juni 1977 vorzeitig abbrach und mit der mittleren Reife verließ, hier entdeckte er seine Begabung und seine Liebe für den Fußball.
Es war ein einfaches und erdgebundenes Aufwachsen in einer überschaubaren Welt. Die vor dem Krieg aus dem etwa 80 Kilometer entfernt gelegenen Schwarzwaldort Hornberg zugezogene Familie Löw war in Schönau bestens etabliert. Die Löws hatten es in der Wirtschaftswunderzeit zu allgemeiner Anerkennung gebracht; sie gehörten zu denen, die es, wie es so schön heißt, »geschafft« hatten. Der Opa besaß einen Lebensmittelladen, Vater Hans, Jahrgang 1921, zählte als Chef seines kleinen Handwerksbetriebs – etwa 20 Arbeiter bauten unter seiner Regie Kachelöfen – zu den Bessergestellten des Ortes, Mutter Hildegard sorgte als gute Köchin für das leibliche Wohl, unter der Woche einfache Küche mit Brägele (Bratkartoffeln) und Bubespitzle (Schupfnudeln), sonntags mit Fleisch, sehr häufig in Form des geradezu legendären Sauerbratens. Das Leben in der badischen Provinz war beschaulich und genügsam, geprägt vom ehrlichen Fleiß einer Nachkriegsgeneration, der schon die sonntägliche Genuss-Zigarre des Ofensetzers Hans Löw wie ein unerhörter Luxus erschien. »Schönau ist meine Heimat, und ich bin stolz darauf, dort in einer intakten Familie groß geworden zu sein. Unser Leben war klar und einfach strukturiert«, sagt Joachim Löw.
Der heutige Bundestrainer, der schon von Kindesbeinen an von allen nur »Jogi« genannt wurde, war ein unauffälliger Schüler und braver Bub, der am Sonntag in der katholischen Kirche ministrierte, nur selten gab es wegen kleiner Sünden mal eine Ohrfeige vom Vater oder vom Großvater. »Es gab klare Regeln in Bezug auf Respekt, Höflichkeit und Anstand«, benennt Joachim Löw das von den Eltern vermittelte Normengerüst, das bis heute seine moralischen Vorstellungen bestimmt. »Das ist aber nicht so zu verstehen, dass lange Ansprachen gehalten worden wären, die Eltern haben es einfach vorgelebt.« Und so führten die Löw-Jungs ihr Kinderleben artig und bescheiden, es war keine Generation, die verhätschelt und verwöhnt wurde. Modische Ansprüche stellte der heute so gestylte Bundestrainer noch keine, manche Jacke wurde vom Älteren zum Nächstjüngeren weitergereicht, größte Vergnügen waren ab und zu mal eine Party oder ein Gang ins Kino nach Freiburg, in den Ferien ging es nicht auf weite Auslandsreisen, sondern nur ins Schwimmbad.
Und dann gab es natürlich noch den Fußball. Alle Löw-Söhne rannten dem Ball hinterher. Nicht nur Joachim sollte es zum Profi schaffen, auch der Zweitjüngste, Markus, wird wie sein älterer Bruder später eine Zeit lang beim SC Freiburg kicken. Der Drittjüngste, Christoph, war angeblich der Talentierteste, sollte aber andere Interessen entwickeln und ein Studium absolvieren. Und Peter, der Jüngste, wird später das Vereinsheim des FC Schönau im kleinen Buchenbrandstadion übernehmen. Vielleicht hätte auch einer