Der Fall des Staatsministers. Bo Balderson

Der Fall des Staatsministers - Bo Balderson


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nach dem Dessert, sich kaum Zeit lassend, die Hand der Wirtin unter dem Kronleuchter zu drücken, brach Staatssekretär Svanberg auf. Es hatte den Anschein, als beabsichtigte Konsul Karling, ihm zu folgen; er brachte einige abgehackte Dankesworte hervor und setzte zum Anlauf auf die Halle und den Flur an, doch der Staatsminister legte ihm den Arm um die Schulter und führte ihn zurück.

      Den Kaffee nahm man im Wohnzimmer. Der Staatsminister hatte verschiedene Wände ausschlagen lassen und eine Atmosphäre geschaffen, die an einen behelfsmäßig hergerichteten Hangar erinnerte. Auch hier waren die Kinder bei uns. Man liest davon, daß die Jugend von heute nie zu Hause sei, sie treibe sich auf der Straße herum und bilde Cliquen oder jage Rentner. Doch der Nachwuchs meiner Schwester ist immer zu Hause. Außerdem halten sie sich in demselben Zimmer auf wie ihre Eltern und deren Gäste, was so gut wie ein Einzelfall sein dürfte. Bedenkt man, daß jedes Kind mindestens zwei Kameraden anzieht, ist leicht zu verstehen, daß das Wohnzimmer des Staatsministers kaum ein Aufenthaltsort ist, den ältere, gebrechliche Menschen aufsuchen, um nach dem Abendessen ihren Kaffee zu trinken.

      Dennoch wird dort der Kaffee serviert.

      An diesem Abend glich der Raum mehr denn je einem gutbesuchten Mehrzwecksaal. In einer Ecke spielte sich das ab, was der Kleidung nach zu urteilen die allwöchentliche Versammlung von Spångas Pfadfindern sein mußte. Offensichtlich wurde ihnen als gute Tat für den Tag Hilfsbereitschaft gegenüber älteren Mitmenschen eingeschärft, denn als ich mich bei einigen Gelegenheiten in meinem Sessel drehte, stürmten einige der uniformierten Kleinen herbei, zogen mich hoch und führten mich im Zimmer auf und ab (einmal auch zur Toilette), bis es mir gelang, zu verstehen zu geben, daß ich nur die Sitzposition zu verändern suchte. An einer anderen Stelle des Zimmers wurden verbrechensvorbeugende Maßnahmen trainiert und weiter hinten probte ein Orchester. Der Staatsminister, der sich zunächst an einem Holzfeuer im Kamin zu schaffen gemacht hatte, aber vom Rauch vertrieben wurde, war dazu übergegangen, eine Gruppe von Jugendlichen im Schottischen, einem polkaähnlichen Rundtanz, anzuführen. Sein Vortanz war energisch, allerdings weniger schön zu nennen. Mitten im Zimmer, gewissermaßen in Konkurrenz zu der Tanzgruppe, waren einige Jugendliche mit dem Bau eines Kanus beschäftigt.

      Es herrschte ein wildes Treiben wie in der Hölle.

      Ich begreife nicht, worin der tiefe Sinn bestehen soll, Milliardär zu sein, wenn man in solchen Verhältnissen leben muß. Genausogut könnte man seine Abende in einer Obdachlosenunterkunft verbringen oder bei einem Krawall oder beim Treffen einer Bürgerinitiative.

      Nahe dem Eßzimmer waren ein paar Sofas zu einer Art Wagenburg zusammengeschoben worden, eine relativ friedliche Ecke, wo meine Schwester Margareta mit dem Verbandskasten und umgeben von ein paar betäubten Gästen präsidierte. Dort schliefen auch die Kleinsten. (Früher waren sie von ihren Kindermädchen in kühle, ruhige Räume gebracht worden, waren dort aber nicht eingeschlafen, zurück in den Krach getragen worden und sofort eingeschlummert. Als der Lärmpegel einmal sank, wälzten sie sich unruhig hin und her.)

      Nach einer halben Stunde riß sich Konsul Karling los. Er verabschiedete sich von der Gastgeberin, und ich glaube, er bedankte sich bei ihr, doch die Worte verstand ich nicht, obwohl es vollkommen offensichtlich war, daß er sie herausschrie. Eine Viertelstunde später war eindeutig Frau Johansson der Ansicht, ihren Teil für das Essen abgeleistet und die jugendlichen Aktivitäten lange genug ausgehalten zu haben. Sie winkte mir ein wenig hilflos zu und wurde von einer verständnisvollen Gastgeberin in die Halle gelotst. Zur gleichen Zeit erhob sich Ministerialrat Dååbh und bahnte sich den Weg über den Fußboden und riß den Staatsminister aus seinem Tanz. Dieser vollführte einige erschöpfte Gesten und verschwand mit seinem Gast im Arbeitsbereich.

      Kurz danach begann meine Schwester, die Kinder eins nach dem anderen abzufertigen. In regelmäßigen Abständen führte sie mehrmals unterschiedlich viele Schläge gegen einen Gong aus, und bei jedem Signal (oder kurz darauf) löste sich eine Altersgruppe und wünschte eine gute Nacht. Ein General hätte sein Heerlager nicht mit größerer Gewandtheit und Autorität räumen können.

      Dann saßen wir zusammen und unterhielten uns einige Zeit in Ruhe und Frieden. Meine Schwester interessiert es immer zu erfahren, wie es mir geht und wie ich in meiner Einsamkeit lebe. (Als sie klein war, trug ich sie auf den Schultern und war ihr Pferd und später, als ich ein Einkommen hatte, soll ich ihr Taschengeld aufgebessert haben. So etwas hat der große Bruder vergessen, aber nicht das Mädchen, das mit der Münze in der Hand zum Süßigkeitenladen lief.) Jetzt wollte sie von der Wohnung und den Reparaturen hören, und sie versprach, für neue Gardinen zu sorgen und den alten, abgewetzten Teppich im Flur zu erneuern.

      Um halb elf Uhr ging sie hinauf in ihr Zimmer, und ich schlenderte ins Arbeitszimmer. Der Tabakrauch hing wie Nebelschwaden im Raum, und ich brauchte zu keinem gekünstelten Husten Zuflucht zu nehmen, um mein Kommen anzuzeigen. Der Glasermeister hatte offensichtlich einen Schnelleinsatz absolviert, da die auf so rätselhafte Weise eingeschlagene Fensterscheibe bereits erneuert worden war. Einen Augenblick lang spürte ich einen Stich von Neid gegen die Hohepriester der Demokratie – mit der Sicherheitspolizei im Rücken hätte ich wohl keine sieben Jahre lang warten müssen, damit meine gesprungene Kloschüssel ersetzt wird. Der Staatsminister legte gerade den Telefonhörer auf und schaute auf die Uhr.

      »Dååbh!« rief er dem Ministerialrat zu, der an einem kleineren Tisch Unterlagen in seine Aktentasche steckte. »Sie sind fertig, oder? Ich fahre Sie in die Staatskanzlei und nehme den Chauffeur mit und fahre weiter nach Arlanda. Der Wagen ... Oh, mein Gott, der Wagen! Der steht ja immer noch an der Tankstelle! Wir müssen ihn holen.«

      Er schaute mich einen Moment lang an, als beurteile er meine Qualität, spät am Abend Autos zu holen.

      »Dååbh«, echote es dann, »Sie holen den Wagen, oder? Ich muß in der Kanzlei anrufen und herausfinden, ob dort wirklich ein Chauffeur ist und im Außenministerium ... Wie spät ist es? Halb elf, das schaffen wir problemlos!«

      Ministerialrat Dååbh war zu uns gestoßen. Offensichtlich war er alles andere als zufrieden mit seiner Aufgabe als Autoholer. Sein Gesicht unter dem gelben, abstehenden Haar war genauso angepreßt und weiß wie bei unserer ersten Begegnung auf dem Gartenweg nach seinem Zusammenprall mit Staatssekretär Svanberg.

      »Was zum Teufel ...«, setzte er an und rang die Hände in bekannter Manier, doch dann sorgte offensichtlich die Parteidisziplin dafür, daß er stillschweigend zuhörte, während der Staatsminister an den Verlauf der Straßen erinnerte.

      »Sie sind in zehn Minuten wieder da!« rief er als Abschiedsgruß mit einem Anflug von Befehlston und stürzte sich von neuem aufs Telefon, das nach und nach die begehrten Auskünfte von sich gab.

      Nach Ablauf von zwanzig Minuten war der Ministerialrat noch nicht zurückgekehrt. Der Staatsminister, der die letzten Minuten an den Schreibtisch getreten war und sich verbindlich verneigt hatte – offensichtlich übte er die Empfangszeremonie auf dem Flugplatz – unterbrach sich, schaute auf die Uhr und schrie los.

      »Verdammt noch mal, jetzt wird’s aber höchste Zeit! Wo bleibt er nur?«

      In dem Augenblick kam er.

      Ich glaube, ich habe noch nie einen so wütenden Menschen gesehen.

      Mit rotgeränderten Augen, gelbem Haar und grimmig stand er da auf der Schwelle und starrte uns an. Adern schwellten und schwollen und lagen wie blaue Seile kreuz und quer über dem Gesicht, und der untersetzte Körper zitterte wie eine schwer arbeitende Maschine.

      »War mit dem Wagen etwas nicht in Ordnung?« fragte der Staatsminister.

      »Dieser verdammte Idiot ...«, brach der Ministerialrat hervor. »Dieser verdammte Idiot! ... Was? Das Auto war nicht vorgefahren. Und nicht betankt ... Und die Scheiben« – hier versagte ihm die Stimme – »die Scheiben waren schmutzig, und er hat nur gegrinst ... Dieser verdammte, verfluchte Idiot ...«

      Der Staatsminister klopfte ihm zur Beruhigung auf die Schulter, zwinkerte verständnisvoll zum Abschied und sagte in einem Ton, den man bei einem ungerecht behandelten Kind anschlägt: »Na los, jetzt fahren wir! Wir schaffen es noch, Sie werden’s schon sehen.«

      5

      Um


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