Randis Reise. Simon Parke

Randis Reise - Simon Parke


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Nähe.

      »Höchste Zeit für ein wenig Ablenkung, finde ich!«, sagte PILGERIN, während sie sich dem fröhlichen Treiben näherte.

      »Nur hereinspaziert, meine Damen und Herren!«, rief ein Mann mit einem zwirbeligen Schnurrbart und verschmitzten Augen mit lauter Stimme. Er trug einen Zylinder aus glänzendem Stoff, einen Gehrock und eine ordentlich gebügelte Kaschmirhose. »KANNABIS’ Halluzinatorischer Psycho-Zirkus bietet Unterhaltung und Zerstreuung am laufenden Band und ohne Ende!«

      Als er PILGERIN entdeckte, eilte er auf sie zu.

      »Du, junge Dame!«

      »Ja?«

      »Wünschst du dir nicht eine Pause von der Realität?«

      »Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Ich bin auf dem Weg zum Himmel.«

      »Das ist doch dasselbe! Deine Reise ist vorbei. Dies ist der Himmel!«

      »Wirklich? Ich hatte mich auf eine etwas längere Suche eingestellt.«

      »KANNABIS’ Halluzinatorischer Psycho-Zirkus ist der Himmel auf Erden!«

      Sein Gesicht kam ihr unangenehm nahe, und PILGERIN roch seinen Zwiebelatem, aber hey, die Menschen waren eben unterschiedlich, und den Zirkus hatte sie immer geliebt. Doch ob dies tatsächlich der Himmel war, da hatte sie so ihre Zweifel. Natürlich hatte sie keine Ahnung, wie der Himmel aussah – ich meine, wer konnte das schon wissen? Doch wenn der Himmel am Ende ein Zirkus war, welchen Zweck erfüllte er dann? Sie beschloss, das Thema anzusprechen.

      »Zirkusse machen viel Spaß«, sagte sie, »aber sie schienen mir nie besonders, nun ja, nützlich.«

      »Nützlich?«, schnaubte er. »Du redest wie ein Bischof in einer Talkshow, ernst und langweilig!«

      Dieser Vorwurf traf ins Schwarze, und PILGERIN errötete vor Scham.

      »Ich wollte nicht –«

      »Wer will denn schon etwas Nützliches«, redete Zwiebelatem weiter. »Werd’ locker, meine Freundin! So ein hübsches Gesicht sollte niemals Langeweile haben!«

      »Ja, entschuldige. Ich möchte wirklich nicht daherreden wie ein Bischof.«

      »Natürlich nicht. Wir wollen hier nichts ›Nützliches‹, sondern Verdrehtes, Raffiniertes, Faszinierendes, Fesselndes und schwindelerregend Verblüffendes oder Grausames!«

      »Wenn du das so ausdrückst –«

      »Komm herein und bestaune den Mann, der ein lebendiges Huhn verspeist«, pries er an, »mit Krallen und allem! Das musst du gesehen haben!«

      PILGERIN war nicht davon überzeugt, doch entschlossen, ganz bestimmt nicht daherzureden wie ein Bischof.

      »Das klingt ziemlich cool«, meinte sie.

      »So ist es schon besser!«, erwiderte ihr himmlischer Gastgeber. »Ernste Mädchen mögen wir nicht!«

      »Das ernste Mädchen ist tot«, erklärte PILGERIN. »Leben und leben lassen, sage ich immer! Es sei denn natürlich, du bist das Huhn.«

      Vermutlich war es die Ratte, die ihr alle Lebensfreude genommen hatte, aber das war jetzt vorbei. Schließlich ging es im Himmel doch darum, Spaß zu haben, nicht?

      »Ich werde mich prächtig amüsieren!«, verkündete sie, und mit diesen Worten führte KOSTAS KANNABIS – so hieß er nämlich – sie zu den Ständen und Buden, wo die verschiedenen Attraktionen um ihre Aufmerksamkeit wetteiferten.

      »Wir werden den heutigen Abend in vollen Zügen genießen«, versprach er, während er sie mit festem Griff durch die Menge schob.

      »Ich habe noch nie so viele Menschen gesehen!«, staunte PILGERIN, die sich von der fröhlichen Atmosphäre anstecken ließ. »Und anscheinend haben alle nur das eine Ziel, sich zu amüsieren!«

      »Lass mich dir die Arbeit des Zirkus erklären«, sagte KANNABIS, während er sie auf eine Bank drückte.

      »Oh, bitte!«

      »Was Menschen dazu bringt, in die Show zu gehen, ist nicht, was sie auf ihren Sitzen hält.«

      »Tatsächlich?«

      »Oh, nein!«

      PILGERIN hatte Spaß daran, sich von diesem faszinierenden Mann in die Geheimnisse des Zirkus einführen zu lassen.

      »Löwen sind an der Plakatwand aufregender als in einer Zirkusvorstellung«, erklärte er.

      »Sie locken Menschen an, können ihnen aber keine Befriedigung verschaffen?«, bemerkte PILGERIN und freute sich an ihrer intelligenten Bemerkung.

      »Das ist der Zweck einer Attraktion, kluges Mädchen! Sie zieht Menschen an.«

      »Und dann?«

      »Wen interessiert das? Du hast sie in deinen Fängen und kannst anfangen, ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen!«

      Sie gingen gemeinsam weiter, vorbei an dem bunten Baldachin des Karussells. Fröhliche Kunden ritten auf Holzpferden, klammerten sich an ihre Messingruten, während die Orgel plärrte und das Geld gezählt wurde. Wo sie auch hinblickte, herrschte ausgelassene Begeisterung. Gewehrschüsse knallten, muntere Fröhlichkeit, Kokosnuss-Würfe und der Schlag der großen Glocke, der durch die Luft hallte, wenn wieder ein starker Mann seine Kraft mit dem Holzhammer ausprobierte.

      PILGERIN war im Himmel und hatte einen Riesenhunger. Schnell schlang sie den Zwiebelkuchen aus Kittys Küche hinunter und als Nachtisch noch ihre berühmte Kirschtorte mit Sahne. Und was für ein Zirkus das war! Er zog sich über die Ebene, so weit das Auge sehen konnte! Hinter dem Rummel wurden von Männern mit nacktem Oberkörper noch mehr Zelte aufgebaut. Das war eine harte und schweißtreibende Arbeit. Ihre dicken Bäuche quollen über ihre breiten Gürtel mit den großen Schnallen.

      »Dieser Zirkus ist ganz schön groß!«, rief PILGERIN.

      »Er ist eine Welt für sich«, erwiderte KANNABIS. »Und wir möchten nicht, dass jemand uns verlässt!«

      »Also, ich habe gar nicht das Bedürfnis zu gehen. Ich glaube, ich könnte für immer hier bleiben!«

      »Das ist das Ziel!«

      »Hier ist so viel los, und ich will nichts verpassen!«

      KOSTAS KANNABIS blickte PILGERIN mit seinem schlangenäugigen Lächeln an, das sie für Respekt hielt. Sie kamen vorbei an dem Hotdog-Stand und dem Verkäufer, der seine gebrannten Mandeln anbot. PILGERIN nahm von beidem. Ihr Geld wurde langsam knapp, aber wen kümmerte das? Das war das Leben.

      »Was ist die erstaunlichste Darbietung, die du je gesehen hast?«, fragte PILGERIN, die Jüngerin, den Herrn.

      »Bei einer Darbietung standen drei Menschen übereinander auf einem Pferd«, erzählte KANNABIS.

      »Tatsächlich?«

      »Oh ja, die Fossetts haben das in der Dreifacher-Jockey-Nummer vorgeführt. So etwas sieht man nicht so häufig.«

      »Und die ausgefallenste Darbietung?«

      »Das war die Dame mit dem Schweinsgesicht.«

      »Wer war sie?«

      »Madame Stevens wurde sie genannt, obwohl sie eigentlich ein Braunbär war, dessen Gesicht man glattrasiert hatte.«

      »Die Dame mit dem Schweinsgesicht war ein Bär? Das ist wirklich eine Illusion. Wie wurde es gemacht?«

      »Ganz einfach. Weiße Handschuhe verdeckten ihre Pfoten, an die sich dicke weiße Arme anschlossen.«

      »Rasiert?«

      »Gut rasiert, ja. Sie saß in Haube, Schal und Hauskleid an einem Tisch, und unter dem Tisch hockte ein Junge mit einem Stock.«

      »Was hat er gemacht?«

      »Er hat sie jedes Mal, wenn der Showmaster ihr eine Frage gestellt hat, angestoßen, damit sie brummte. Und nach jedem Brummen erklärte


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