Randis Reise. Simon Parke

Randis Reise - Simon Parke


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      »Nicht wirklich wahr.«

      »Nichts ist wahr. Trotzdem, dann fragte er sie, ob sie heiraten würde, wenn sie den richtigen jungen Mann kennenlernen würde.«

      »Und was hat sie geantwortet?«

      »Bei dieser Frage stach der Junge fester zu, was ärgerliche Schmerzenslaute von dem gequälten Bären zur Folge hatte.

      ›Ist gut, ist ja schon gut!‹, sagte der Showmaster. ›Ich habe ja nur gefragt!‹ Danach ließ er den Hut herumgehen.«

      »Und die Leute haben geglaubt, was sie gesehen haben? Waren sie nicht bei Verstand?«

      »Der Verstand hat im Zirkus keinen Platz, mein Mädchen. In einer Menge glauben die Menschen die verrücktesten Dinge.«

      PILGERIN war bekannt, dass der menschliche Herdentrieb manchmal die seltsamsten Blüten trieb, aber zum Glück standen sie und KOSTAS KANNABIS über den Dingen.

      »Sieh dich nur um!«, forderte er sie mit einer ausladenden Geste auf.

      PILGERIN beobachtete die vielen Menschen, die hin und her eilten.

      »Die Leute wollen ihrem normalen Leben entfliehen«, erklärte er. »Sie sehnen sich danach, den besonderen Kick des Unerwarteten oder der Freude zu erleben; alles, wenn es sie nur von sich selbst ablenkt!«

      PILGERIN gefiel die Idee, von sich selbst abgelenkt zu werden, und auf einmal durchzuckte sie ein ungewöhnlicher Gedanke.

      »Vielleicht könnte ich hier arbeiten?«, fragte sie vorsichtig.

      »Du?«, fragte KANNABIS und betrachtete sie mit neu erwachtem Interesse.

      »Warum nicht?«, erwiderte PILGERIN, erstaunt darüber, dass sie so einen Vorschlag machte und sich tatsächlich sogar dafür erwärmte.

      Ihr kurzer Besuch im Zirkus hatte sie eines erkennen lassen: wie langweilig ihr Leben war. Vielleicht war das der Grund, warum sie auf diese Idee mit der Reise zum Himmel gekommen war – um ihrer langweiligen Existenz zu entfliehen. Vielleicht war dieses ganze Gerede vom Himmel nur ein Aberglaube, den die Menschen brauchten.

      »Glaubst du an den Himmel?«, fragte PILGERIN.

      »Wer braucht den Himmel, wenn man im Zirkus leben kann?«, erwiderte KANNABIS mit sichtlichem Unbehagen. Nicht, dass PILGERIN dies aufgefallen wäre, denn im Psycho-Zirkus nimmt man so etwas nicht mehr wahr. Es ist einfach zu viel los, um etwas anderes zu sehen als die nächste Attraktion.

      »Und wer braucht schon Freunde wie Veronica«, dachte PILGERIN, »wenn man einen Lehrer wie KOSTAS KANNABIS haben kann, den dunklen und gefährlichen Hohepriester der Ablenkung?«

      »Kannst du jonglieren?«, fragte KANNABIS.

      Ihm schien die Idee, dass sie im Zirkus arbeitete, zu gefallen.

      »Ist das ein Einstellungsgespräch?«, fragte PILGERIN aufgeregt.

      »Könnte gut sein, junge Dame.«

      »Also, ich kann nicht wirklich jonglieren, nein. Vielleicht mit einem Apfel, aber nicht mit mehreren –«

      »Dann kannst du vielleicht am Trapez arbeiten?«

      »Große Höhen sind ein Problem.«

      »Du könntest bei den Tieren mithelfen.«

      »Warum nicht? Früher hatte ich einmal einen Hund!«

      »Ahh! Dann könntest du die wilden Löwen zähmen und einem Geparden ein Ballettröckchen anziehen?«

      »Der Hund war ein Labrador. Löwen und Geparden sind schon eine ganz andere Herausforderung.«

      »Wir finden bestimmt irgendwo einen Platz für dich.«

      »Oh, vielen Dank!«

      »Solange du bezahlen kannst.«

      »Bezahlen?«

      »Natürlich! Das hier ist doch keine Wohltätigkeitsveranstaltung, du dumme Trantüte!«

      Die Atmosphäre kühlte sich ab, als hätte sich plötzlich eine Wolke vor die Sonne geschoben.

      »Dumm?«, fragte PILGERIN.

      Sie war entsetzt darüber, dass ihr neuer Held sie beschimpfte.

      »Das ist doch nur so ein Wort«, winkte KANNABIS ab.

      »Und ›Trantüte‹?«

      »Auch nur ein Wort.«

      »Keine besonders schönen Wörter«, meinte PILGERIN. »Und ich kann nicht bezahlen, weil ich kein Geld mehr habe. Ich habe alles hier ausgegeben.«

      »Du hast kein Geld mehr?«

      »Keinen Cent!«

      »Dann hör’ auf, meine Zeit zu vergeuden!«

      »Deine Zeit vergeuden?«

      »Leute wie du machen mich krank!«

      »Aber ich dachte, wir wären Freunde?«

      »Freunde? Hier im Zirkus geht es um Raffiniertes, Faszinierendes, Unerwartetes und Grausames! Freundschaft spielt hier keine Rolle. Du bedeutest mir gar nichts, und ich habe einen Zirkus zu organisieren.«

      »Aber wir hatten doch ein so interessantes Gespräch!«

      Plötzlich kam sein Gesicht ihrem ganz nahe.

      »Du wärst erstaunt, wie schnell ich mich anderen Dingen zuwenden kann. Ich schlage vor, du tust das auch.«

      Und mit diesen Worten wandte sich KANNABIS ab, stapfte davon und war bald nicht mehr in der wogenden Masse der Getäuschten zu sehen.

      PILGERIN wusste nicht, was sie machen sollte. Sie hatte ihr ganzes Geld für Fahrten ausgegeben, die sie nur im Kreis herumgeführt und dann wieder dort abgesetzt hatten, wo sie gestartet war. Sie war der Verlockung erlegen, aber zurück blieb eine große Leere, sowohl in ihren Taschen als auch in ihrer Seele. In der kalten Zirkusluft begann sie zu zittern. Sie entfernte sich von der Menge, und in einer dunklen Ecke ließ sie sich auf einem ausrangierten bunten Sofa nieder, zutiefst verzweifelt.

      »Ooaaahh!«

      PILGERIN fuhr erschrocken zusammen. Das Stöhnen kam nicht von ihr. Es erinnerte sie ein wenig an einen alten Freund, aber der war jetzt in Australien. Er konnte es also nicht sein. Und über der Frage: »Wer?« stand die Frage: »Warum?« Warum sollte jemand in einem Zirkus stöhnen? Der Zirkus war ein Ort, wo Fröhlichkeit herrschte, oder etwa nicht? Man stöhnte beim Zahnarzt oder während einer langen Predigt, aber nicht im Zirkus, wo es nur Ausgelassenheit und Begeisterung gab. Sie blickte sich um, konnte aber in der Dunkelheit niemanden entdecken.

      »Vermutlich habe ich mir das eingebildet!«, dachte sie, als sie sich wieder hinsetzte.

      »Uuooohh!«

      Nein, sie hatte sich das nicht eingebildet! Das war definitiv ein Stöhnen, lauter als das erste, und es kam von dem bunten Sofa, das sich bei näherer Betrachtung als ein auf dem Boden liegender Clown entpuppte.

      »Es tut mir sehr Leid«, entschuldigte sich PILGERIN. »Ich habe dich für ein buntes Sofa gehalten.«

      »Nein, ich bin ein trauriger Clown.«

      »Aber du lächelst.«

      »Das ist nur das Make-up.«

      »Natürlich«, erwiderte sie und kam sich dumm vor. »Ich lerne gerade, dass in einem Zirkus vieles nicht real ist. Ich bin übrigens PILGERIN, und ich bin auf dem Weg zum Himmel.«

      »Das klingt nett.«

      »Es ist nicht alles Gold, was glänzt, glaube mir«, erwiderte sie und dachte an die beiden Tiger. »Aber sag mir: Warum liegst du auf dem Boden, obwohl du die Kinder doch eigentlich zum Lachen bringen solltest?«

      »Das willst du gar nicht wissen.«

      »Doch, ich möchte es gern wissen.«


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