Helmut Kohl. Ein Prinzip. Alexander Gauland
von Völkern und Staaten, Richtungen von ganzen Zivilisationen können daran hängen, daß ein außerordentlicher Mensch gewisse Seelenspannungen und Anstrengungen ersten Ranges in gewissen Zeiten aushalten könne.«4 Dieses Urteil Jacob Burckhardts über Friedrichs Rolle im Siebenjährigen Krieg trifft auch auf Churchill zu. Denn alle seitherige europäische und Weltgeschichte ist davon bedingt, daß Churchill dies vom 10. Mai 1940 bis zum Kriegseintritt Amerikas im Dezember 1941 in supremem Grade konnte.
Und wie steht es mit Helmut Kohls Unersetzlichkeit in den letzten vier Jahren? Niemand kann sagen, ob ein anderer, ob Helmut Schmidt oder Willy Brandt die historische Stunde ebenso effektvoll und klug genutzt, das gleiche Ausmaß an Willenskraft und Durchsetzungsvermögen aufgebracht hätten. Doch erscheint es ungerecht, das Ganze als »zufällig, bei allem politischen Verdienst doch ohne innovatorische Leistung»5 abzutun. Größe, die auf Unersetzlichkeit gründet, hat mit der Ästhetik der Persönlichkeit nichts zu tun. Es mag manchen schmerzen, daß Größe hier in kleinbürgerlichem Gewande auftritt, daß Helmut Kohl nicht groß auch in der Welt des Geistes und der Ideen ist, daß er so gar nichts die Menschen Verzauberndes hat und wir Gedanken und Erinnerungen von ihm nicht lesen werden – den Maßstab, an dem wir zu messen haben, ändert das nicht.
Wenn es uns dennoch nur schwer gelingt, unsere Vorstellung von Größe mit den heute Handelnden zu verknüpfen, so steckt dahinter noch ein anderes Problem – das der politischen Symbolik. Nach der Einigung im Jahre 1870 entstanden überall in Deutschland Nationaldenkmäler, Bismarcktürme, Kaiser-Wilhelm-Gedächtnissteine und ähnliche Scheußlichkeiten, deren ästhetische Anspruchslosigkeit ein Problem ausstellte: die mangelnde Symbolkraft des neuen Reiches. Das Reich gründete auf den Kanonen Krupps und dem preußischen Zündnadelgewehr, doch seine Symbole atmeten barockes Pathos und spätrömische Vulgarität. Ausländische Beobachter wie der kluge und gebildete Henry Adams, sahen in dieser Mischung zu Recht eine ästhetische Katastrophe durch geistiges Versagen: »Vierzig Jahre haben eine neue Schicht von schlechtem Geschmack zu allem vorigen gefügt. Es macht mich krank, wenn ich bedenke, daß dies das ganze Ergebnis meiner Lebenszeit ist. In Italien sah ich dasselbe, aber doch nicht in so riesigen Dimensionen… Alles in allem macht Deutschland mir den Eindruck eines hoffnungslosen Versagens.«6 Dieser Rückgriff auf eine vorindustrielle Formensprache begleitete die offizielle Kunst des Kaiserreiches und fand ihren stärksten Ausdruck in den Historienbildern Anton von Werners. Später griffen die autoritären Systeme des Nationalsozialismus, des Faschismus und des Kommunismus noch einmal in diese Trickkiste veralteter Symbole und bauten aus Fahnen, Lichtdomen und Massenaufmärschen eine Kulisse für den Auftritt falscher Größe.
Die deutsche Einigung vollzog sich am 3. 10. 1990 ohne jeden Rückgriff aufs Symbolische, sie schuf keine bleibenden Bilder und damit auch keine Aura, in der sich die handelnden Figuren für die historische Zeitenwende in Szene setzen konnten. Sie blieben, was sie waren – die Spitzen der politischen Daseinsvorsorge eines Industrielandes. Nachdem von Max Webers drei Typen der legitimen Herrschaft nur noch die legale übriggeblieben ist, ist die symbolische Darstellung der industriellen parlamentarischen Demokratie ein ungelöstes Problem, das nur deshalb nicht zum allgemeinen Problem der westlichen Demokratien geworden ist, weil England, Frankreich und die USA aus dem reichen Fundus ihrer vorindustriellen Traditionen und Symbole schöpfen können. Pageantry und Revolutionsmystik können immer erneut heraufgerufen werden, und es genügt, an die ruhmreichen Fahnen von Waterloo einen neuen Wimpel zu fügen, um den Falklandkrieg zu symbolisieren. Ob die Mall in Washington oder Mitterrands neuer Triumphbogen La Défense, sie knüpfen an die Ästhetik der Vergangenheit an, verlängern sie in die Gegenwart und entgehen so der Bilderlosigkeit des 3. 10. 1990. Andererseits zeigt der Streit um die Neue Wache, daß es in Deutschland aus historischen Gründen keine selbstverständliche Übereinkunft zu Symbolen mehr gibt und folglich jede erzwungene Neuschöpfung Streit auslöst. Nachdem Tessenows Gestaltung der Schinkelschen Wache für das sinnlose Morden nicht mehr ausreichend schien, fehlte die Bildkraft, dieses darzustellen. Auch hier gilt, daß die Industriegesellschaft auf Fundamenten ruht, die sie nicht selbst schaffen kann, wenn sie einmal zerstört sind.
Wir haben heute in unserer Gesellschaft einen Grad von Abstraktion erreicht, der es immer schwieriger macht, prägende Bilder zu finden. Über einen bekannten deutschen Theaterregisseur kursiert die Geschichte, daß er in seinem Büro, über einer Inszenierung brütend, auf die Glaswand einer Bank starrte und schließlich wissen wollte, was hinter dieser Wand vorgehe. Doch der von ihm angesprochene Direktor des Instituts zuckte nur die Achseln und meinte, daß es ihm unmöglich sei, die Abstraktion dieser Vorgänge zu erklären. Wie soll ich sie dann in Bilder fassen und auf die Bühne stellen, war der verzweifelte Ausruf des deprimierten Künstlers. Man vergleiche damit nur die sich jedem oberflächlichen Kenner der deutschen Geschichte sofort entschlüsselnde Symbolik von Jüngers Marmorklippen. Von den Mauretaniern und den Purpurreitern über das fürchterliche Köppelsbleek bis hin zu Braquemart und dem Fürsten von Sunmyra können wir die Figuren leicht enträtseln und die Symbole deuten. Denn die Welt des Adels und des Kampfes bedarf keiner Erklärung, wie die Welt der Leitzinsen und des Bruttosozialproduktes. Odo Marquard hat diesen Prozeß die moderne »Entwirklichung der Wirklichkeit« genannt und davon gesprochen, daß unsere Welt sachlich, trivial, einförmig, überraschungsarm und unfaszinierend geworden ist.7 So unfaszinierend wie die Handelnden und ihre Handlungen. Größe bedarf der Anschaulichkeit, der Symbole und der »Ästhetisierung des Politischen». Daran hat es in der alten Bundesrepublik gefehlt und fehlt es in der neuen. Nur in den alten Demokratien speist sich die politische Repräsentation aus ehrwürdigen Traditionen, doch auch diese haben längst nur noch einen dekorativen, musealen Charakter. Es muß deshalb nicht erstaunen, daß die Menschen nur in einer zeitgenössischen Figur, die sich beim näheren Hinsehen als Gestalt verflüchtigt, Größe erkennen wollten, in J. F. Kennedy. Denn dieser Mann, der Größe wohl nicht hatte, lebte aus dem Fundus der britischen Aristokratie, die noch immer das beste Beispiel ist für ein Zusammenspiel von Formen zu einem Stil, der die Gesellschaft prägt. Helmut Kohl daran zu messen wäre nicht nur verfehlt, sondern ungerecht. Selbst wenn er für die deutsche Wiedervereinigung unersetzlich im Burckhardtschen Sinne gewesen ist, fehlen ihm die subjektiven Merkmale der historischen Größe. Er hat sein Werk in einer Zeit vollbracht, die dem großen Individuum abhold ist, weil sie sein Wirken nicht mehr in Bilder und Symbole zu fassen vermag.
Die Karriere
Das Leben Helmut Kohls beginnt am 3. April 1930 in Ludwigshafen. Das umgebende Milieu ist kleinbürgerlich, bäuerlich. Kohls Vater war Finanzbeamter, katholisch und nationalliberal. Das Elternhaus blieb gegenüber den Ideen des Nationalsozialismus resistent. Der Vater hatte schon den Beginn des Krieges als einen Einschnitt erlebt und als provisorischer Stadtkommandant einer eroberten polnischen Stadt Dinge gesehen, die ihn den Tag fürchten ließen, an dem das deutsche Volk dafür würde bezahlen müssen. Kohls Bruder fiel Ende 1944 in einer der letzten großen Abwehrschlachten im Westen – er selbst barg Bombentote in Ludwigshafens Straßen und erlebte das Kriegsende in einem Wehrertüchtigungslager in Berchtesgaden.
Da das Elternhaus eher unpolitisch war, bleibt Kohls frühes politisches Engagement verblüffend, denn bereits mit 18 Jahren galt der Abiturient in Ludwigshafen als eine politische Lokalgröße. Eine einleuchtende idealistische Erklärung für den politischen Aufstiegswillen Helmut Kohls findet sich nicht, Schule und Studium prägten ihn nicht über das normale Maß hinaus. Bereits das Studium war mehr Mittel zum Zweck des Aufstiegs als Drang nach Welterkenntnis. Bedenkt man die Zeit, den Neuanfang und die Namen in Frankfurt und Heidelberg, wo Kohl Öffentliches Recht, Politische Wissenschaften und Geschichte studierte, so hätte er viel einschneidendere Eindrücke davontragen können. Franz Böhm, Carlo Schmid, die Frankfurter Schule, Karl Jaspers, Alfred Weber, Alexander Rüstow, Dolf Sternberger und Gustav Radbruch repräsentierten das Beste deutscher Geistigkeit. Daß Helmut Kohl trotz dieser Möglichkeiten am Ende das Dissertationsthema »Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945« wählte, ist ihm vorgehalten worden. Doch der Vorwurf verkennt Kohls Ziel. Er brauchte die Promotion für den Aufstieg, und dafür war das Thema ideal und der Erfolg sicher. Auch heute ist diese Arbeit noch immer eine interessante Studie zu einem Stück politischer Heimatgeschichte, nichts Aufregendes, aber auch nichts, wofür sich ein amtierender Bundeskanzler