Das Schiff der Fremden. Peter Seeberg

Das Schiff der Fremden - Peter Seeberg


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groß war, schien es ziemlich schwach zu sein.

      Er rief den Wolf an, wie der Vater es ihm beigebracht hatte, und er nannte ihn lieb, das hörten die Wölfe gern: »Lieber Wolf, willkommen bei mir. Ich bin hungriger als du, du brauchst mich also nicht zu fressen. Ich friere auch mehr als du, deshalb könntest du mir dein Fell geben.«

      »Was gibst du mir dafür?« fragte der Wolf, ein altes Männchen, verstoßen vom Rudel.

      »Ich werde dir erzählen, wo es Schafe und Lämmer gibt.«

      »Schafe und Lämmer, die sind um diese Zeit in den Häusern der Menschen«, brummte der alte Wolf.

      »Nicht in dieser Gegend«, sagte der Junge ohne Namen, »hier scharren die Schafe den Schnee beiseite und fressen das gefrorene Gras. Du kannst dich selbst davon überzeugen.«

      »Dann nimm das Fell«, sagte der Wolf, »der Hunger plagt mich tatsächlich mehr als die Kälte, deshalb mache ich den Tausch gerne mit.«

      Der Junge forderte den Wolf auf, sich hinzulegen, damit er mit seinem Messer herankommen könne, und der Wolf legte sich bereitwillig hin.

      »Jetzt muß ich dir erst den Hals aufschneiden«, sagte der Junge, »anders geht es nicht.«

      »Mach das nur«, sagte der Wolf, »ich werde es ja gewiß nicht spüren.«

      Der Wolf spürte es natürlich schon, aber da war es zu spät, und der Junge konnte dem Wolf das Fell abziehen, aber den Körper rührte er nicht an, so, wie er es versprochen hatte.

      Am gleichen Tag noch schabte er die Haut, scheuerte sie mit Seewasser, und obwohl sie der Frost steif werden ließ, hatte er ein Wolfsfell und brauchte nicht zu frieren.

      »Danke, lieber Wolf«, sagte der Junge, nachdem er sich in das Fell gehüllt hatte, »du bist sehr gut zu mir. Und du, Vater, was sagst du dazu?« fragte der Junge, zum Aschehaufen gewandt, »sagst du gar nichts dazu?«

      Aber der Vater hatte nichts zu sagen. Er hielt sich wahrscheinlich meistens im Gildenhaus auf.

      Jetzt konnte der strenge Winter, an dem die Tage länger wurden, ruhig kommen.

      4

      Der späte Winter war beißend kalt und sonnig. Die Aale schlummerten in ihrem weichen Schlamm am Grunde des Sees und ließen Luftblase um Luftblase nach oben unter das Eis steigen. Dort froren die Blasen fest und waren wie runde Augen, in die er mit dem Hammer hacken konnte, wenn er auf dem Eis war, um Aale zu fangen.

      Das Eis war dick wie eine Faust, dann wuchs es nach unten und erreichte die Dicke eines Unterarms. Die Aale hatten nun Frieden vor ihm, durch diesen Eispanzer drang er nicht. Das waren magere Wochen, in denen er in der Mulde Moosbeeren unter dem Schnee ausgrub – es wurden immer weniger – oder hinter Büschen und Grashügeln wartete, um ein Schneehuhn in seinen Bann zu ziehen oder einen Hasen anzulocken. Hoch oben schwebte der Adler und hatte alles im Auge. Das Raubtier hielt sich nicht zurück, sondern schnappte sich die Beute, die schon fast seine war, den neugierigen Hasen, der die Ohren drehte und aufmerksam schnupperte. Gerade, als der Hase näher heranhoppeln wollte, schoß der Adler im Sturzflug herunter, schlug seine Klauen in ihn, warf dem Jungen einen spöttischen Blick zu, erhob sich mit der zappelnden Beute und flog davon, so weit, daß er ihm mit den Augen nicht mehr zu folgen vermochte.

      Nur die Forellen ließen ihn nicht im Stich, sie standen in einem tiefen Wasserloch des Quellbachs, mit dem Rücken gleich unter der Oberfläche, und ernährten sich friedlich von kleinem Getier. Man kam gar nicht auf den Gedanken, daß sie auch erschreckt davonschießen und sich so schnell verstecken konnten, als wären sie nie dagewesen. Sie waren gut zu ihm.

      Er hatte beschlossen aufzubrechen, kurz bevor Tag und Nacht gleich lang waren. Er wollte für alle Fälle die Bogensehnen mitnehmen, der Aalspeer sollte hierbleiben, bis er zurückkehrte. Speer und Eishammer sollten auf ihn warten, bis er zurückkehrte, um sich niederzulassen und eine Hütte zu bauen.

      An einem sonnigen Tag, an dem es taute und tropfte, machte er sich auf den Weg. Er hatte den Waldrand noch nicht erreicht, als ihn der Zaunkönig umschwirrte, der Vogel sah ganz freundlich aus, scherzte ein bißchen mit ihm, aber flog dann zurück zur Hütte, wo er sich auf seinen Zweig setzte und ihm nachschaute. Nun würde der Vogel da sein, wenn er zurückkam, obwohl der Junge einmal seinen Rat nicht beherzigt hatte.

      Der Junge streifte durch die schon bekannte Gegend, sah die Dörfer wieder mit den stinkenden Häusern, sah den Rauch, der sich von den Dächern niederschlug und bläulich zwischen den Wänden hing, die Kühe, die an einem Heubüschel kauten und sich nicht bewegten, während eine Bauersfrau daneben kniete und in einen Holzeimer molk. Aus den Türen lugten die Augen der Kinder. Männer waren nicht zu sehen, sie waren vielleicht auf der Jagd oder überprüften ihre Fallen.

      Plötzlich wurde an einer Hauswand ein kleiner Laden geöffnet, und große Vögel drängten heraus und flogen überall dort hin, wo der Schnee geschmolzen war und sie Samen finden konnten. Das Männchen stellte sich auf und brachte durchdringende Laute hervor, wie er sie nie zuvor gehört hatte, nicht einmal von weitem. Das waren Vögel, die es nicht im Wald gab, größer als Schneehühner, viel größer, und kleiner als Auerhähne, vermutlich so groß wie Birkhühner. Nun hatten die Bauern also neue Tiere dazu gebracht, bei ihnen zu bleiben, Tiere, die allein nicht zurechtkamen und abhängig waren von dem, was die Bauern wollten.

      Er gelangte noch vor der Dämmerung zum Bach der Biber. Er richtete sich auf einen Halbschlaf auf einem Baum ein, es war Vollmond, ab und zu wurde ein Biber mit glattem, glänzendem Fell sichtbar, schwamm in dem aufgestauten Bach herum und kroch dann an Land, stolperte zu einem jungen Bäumchen und nagte die Rinde ab, knabberte und kaute hastig, kehrte ins Wasser zurück und verschwand in seinem geheimen Eingang.

      Er schlief sehr leicht, hörte alles und spürte ständig den Mond und dessen Widerschein auf dem Bach. Wenn er nicht fror, träumte er, meistens von der Bauerntochter, die sich von ihm entführen ließ und sich in seinen Armen leicht machte. Ganz bis zur Hütte brauchte er sie nicht zu tragen. Wenn sie erst weit genug vom Dorf entfernt waren, würde sie von selbst mit ihm gehen, nur er kannte schließlich den Weg.

      Starr vor Kälte klettere er vom Baum, als es am Himmel zu tagen begann. Er ging den Bach entlang bis zum See, wo die Mündung war, und er fand ein Wasserloch, in dem die kleinen Forellen Rücken an Rücken standen. Er schnappte sich eine, biß hinein und aß.

      Er folgte dem Ufer des Sees, nirgends war ein Aalfänger aus dem Dorf am Hügel zu sehen. Er roch das Dorf, eine einzelne Rauchsäule stieg über dem Wald auf.

      Er mußte auf der Uferseite bleiben, wo das Quellwasser in den See floß und das Eis körnig machte, und auf dem Grund der Wasserlöcher erspähte er große, weiße Muscheln, wie die Mutter sie gesammelt hatte, wenn der See daheim eisfrei war. Das war wie ein süßer Schleim im Mund und sättigte mehr als die salzigen Muscheln, die sie am Sommerplatz beim Fjord oben sammelten.

      Er blieb oft stehen und schaute, ob er jemanden sah, und dabei grübelte er vor sich hin. Auf dem See beobachtete er, wie ein weißes, kurzbeiniges Tier mit einem kleinen Schwanz davonwieselte. Es war weit weg, wahrscheinlich ein Hermelin, gerade recht, um daraus eine Mütze zu nähen, hätte die Mutter gesagt.

      Eine schöne Mütze für die Bauerntochter.

      Er stieg die Böschung hinauf, um näher an das Dorf heranzukommen. Dort war für viele Felder mit kleinen Deichen dazwischen gerodet worden. Der Schnee neben den Deichen war verweht, er lag wie große Zungen auf dem Feld, und aus den Schneewehen ragten steife, kleine Strohhalme, Reste von dem, was hier gewachsen war und von dem die Mutter gesagt hatte, es sei Getreide.

      Zwischen den Strohhalmen bemerkte er eine kleine Schar Rebhühner. Daheim hätte er sich eines nach dem anderen gefangen, aber er wagte sich nicht hinaus auf das Feld. Die Hunde der Bauern würden ihn verraten, und dann könnte er später nicht mehr ungesehen zur Quelle kommen.

      Es war ein großes Dorf mit vielen Häusern, umgeben von einem hohen, aus Zweigen geflochtenen Zaun. An einigen Stellen gab es Öffnungen, und hier waren Pfade in den Schnee getrampelt. Einer führte vermutlich hinunter zur Quelle,


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