Devolution. Ralph Denzel
wegging. Meistens hörte er dann noch bis zur Haustüre das klägliche Miauen, als wolle sein Tier ihn zurückrufen. Er ertrug es nicht, wenn sein Herrchen weg war. Heute jedoch würde er nie wieder nach Hause kommen – und sein Tier hätte die letzten, grauenhaften Stunden auf Erden alleine und voller lähmender Angst verbringen müssen – ohne Chance auf Rettung. Nichts würde hier überleben, zumindest nicht in der nächsten Nähe. Das hatten Hunderte Experten immer wieder betont. Sehr aufbauend, wenn man direkt am Einschlagsort lebte.
Sie würden wohl alle verbrennen.
Wenigstens sein Kater würde davon nichts mehr mitbekommen.
Er würde nun für immer das tun, was er auch schon im Leben am liebsten gemacht hatte.
Schlafen.
Friedlich in seinem Lieblingsplatz.
Noah würde ihm bald folgen. "Keine Sorge, mein Großer, Herrchen ist auch bald bei dir", flüsterte er ein letztes Mal und richtete sich auf. Die gesamte Prozedur mit seinem Kater hatte die Müdigkeit und die Abgeschlagenheit aus seinen Gliedern vertrieben, als hätte man ihm intravenös Koffein verabreicht. Er fühlte sich so hellwach wie noch nie, auch wenn er immer noch sehr wackelig auf den Beinen war.
Es war nun ungefähr neunzehn Uhr, was ihm ein schneller Blick auf seine Uhr verriet.
Der Asteroid würde in ziemlich genau sieben Stunden einschlagen.
Er streckte sich nochmals und blickte auf seinen Kater. Einmal streichelte er ihm noch über den Kopf. Eine Stimme in ihm schien ihm zuzuflüstern, er solle hier bleiben. Solange er sein Tier berühren könne, würde er auch keinen Abschied nehmen, aber er schüttelte diese Worte ab, auch wenn sie ziemlich verführerisch für ihn waren. Dann verließ er seine Wohnung.
Zum letzten Mal – schon wieder ein letztes Mal – dachte er sich. Wehmütig drehte er sich noch einmal um, ließ seinen Blick über die Einrichtung schweifen, die unter einer zentimeterdicken Staubschicht lag. Er hatte eigentlich regelmäßig die Wohnung geputzt, was ihmn immer wieder spöttische Kommentare von seinen Freunden eingebracht hatte, wie »Wenn ich mal eine ordentliche Hausfrau will, dann heirate ich einfach dich!« Aber seit ungefähr einem halben Jahr hatte er auf diese Nichtigkeit keinen Wert mehr gelegt.
Die Tür schloss er nicht mehr ab, er schloss sie nicht einmal.
Die meisten Menschen hatten Konstanz verlassen und die die noch hier waren, waren aller Wahrscheinlichkeit nach mit anderen Dingen beschäftigt als mit Plündern. Aber auch wenn sie plündern wollten: Alles, was er nun noch in der Wohnung hatte, würde ihm in den nächstens Stunden nichts mehr bringen, so dachte er zumindest.
Devolution war das Wort der Stunde, und als die Medien noch regelmäßig sendeten und nicht nur so sporadisch, wie es in den letzten Wochen der Fall gewesen war, auch ein Wort, welches immer wieder gefallen war. Die meisten hatten versucht zu fliehen, weit weg, und die Stadt lag still und leise vor ihm wie ein riesiges Grab aus Beton.
Mindestens vier Menschen aber waren noch hier in Konstanz.
Er, Chris, Mick und Tom.
Sie hatten einen Logenplatz für den Weltuntergang – dies war eine Show, die man nur einmal sehen würde.
Der Tag war sehr, sehr warm und die Hitze flimmerte in spiegelnden Reflexionen über den grauen Asphalt.
Normalerweise hätten sich auf der Eichhornstraße die Wagen von Badegästen gestaut, die im Freibad am Bodensee auf den Wiesen die Sonne genossen und sich im See abgekühlt hätten. Heute waren keine Autos unterwegs. Eine gespenstische Stille lag über der gesamten Stadt. Nur die Stechmücken waren wieder unterwegs und Noah ärgerte sich, dass er kein Abwehrspray dabei hatte.
Er lief einen kleinen, unbefestigten Seitenweg an einem Gymnasium vorbei. Auf einem Sportplatz direkt daneben, der von einem hohen Drahtzaun umschlossen war, trafen sich normalerweise immer wieder Schüler der dazugehörigen Schule, um dort Fußball oder Basketball zu spielen. Heute bot sich Noah eine gänzlich andere Szene.
Auf der grünen Grasfläche lagen unzählige Leiber, die es miteinander trieben. Ein groteskes Gebilde aus Gliedmaßen, ein Stöhnen wie von Tieren. Noah beobachtete die Szenerie ein paar Sekunden, bevor Ekel in ihm aufstieg. So etwas gab es derzeit überall auf der Welt, dessen war er sich sicher. Meistens waren es verabredete Treffen gewesen, meistens über das Internet, zumindest solange es noch funktioniert hatte. Wenn man schon sterben musste, warum nicht während einer Orgie? Und wer wollte schon als Jungfrau abtreten?
Hier zeigte sich nun die gesamte Verdorbenheit der Menschheit, empfand Noah – und die so oft angepriesene Devolution.
Männer taten es mit Frauen, Frauen mit Männern, Männern mit Männern, Frauen mit Frauen, Jung mit Alt, hässlich mit hübsch – alles lag übereinander, stieß, stöhnte, grunzte. Es ging hier wahrscheinlich nicht einmal um Lustgewinn oder Befriedigung, sondern vielmehr um eine Grenze, die überschritten werden musste. Es an einem öffentlich Platz zu treiben – er hatte es selbst Hunderte Male gemacht in den letzten Monaten und daran nichts Verwerfliches gefunden, aber in diesem Moment, seinen toten Kater im Hinterkopf, schien ihm so etwas nur abstoßend.
Vielleicht war es ganz gut, dachte Noah, während er sich eine Zigarette ansteckte. Jetzt machte das ja schließlich auch nichts mehr, dass die Menschheit bald ein Ende finden wird einst die Dinosaurier. Es schien, als würde sie auf den letzten Metern ihrer Existenz geradezu darum betteln, doch auch wirklich ausgelöscht zu werden.
Nicht mehr ganz sieben Stunden, sagte seine Armbanduhr, deren helle Digitalziffern in einem unheilvollen Rot glühten.
Der Rauch prickelte in seiner Lunge und er zögerte eine Weile, bis er ihn wieder ausblies. Auch wenn seine Beine noch kribbelten und er sich nicht ganz standfest fühlte, war er um einiges klarer als noch vor einer halben Stunde. Unglaublich, wie revitalisierend der Tod eines geliebten Wesens den Geist erfrischen kann, dachte er traurig.
Er spürte an seinen Händen noch das samtene Fell seines Stubentigers, in seinen Ohren verwandelte sich das Gestöhne der Menschen auf dem Fußballplatz zu einem wohligen Schnurren seiner Katze. Wenn jemand in purer Lust einem anderen auf den Hintern schlug, wurde dieses Geräusch nicht mehr zu einem Klatschen, sondern zu einem Knacken, wie das Brechen eines Genicks. Er erschauderte, spürte den Widerstand des Knochen unter seinen Fingern nachgeben, als würden sie sich noch immer gegen seine Haut pressen.
Dann drehte er sich um und ging weiter. Das Schauspiel widerte ihn nur an und brachte zu allem Überfluss Gedanken in ihm hoch, die er am liebsten ganz tief vergraben hätte. Der Kies knirschte unter seinen Füßen und jeder Schritt wirbelte winzige Staubwolken auf, so trocken war der Boden. Er wollte sich nicht mehr umdrehen. Nicht noch einmal das Haus sehen, welches ihm die letzten Jahre ein Zuhause gewesen war. Die möglichen Erinnerungen schreckten ihn zu sehr ab.
Das Stöhnen und Kopulieren wurde langsam leiser, als er an einer Kreuzung ankam. Er überquerte die Straße, ohne nach links oder rechts zu schauen, denn es war nicht mehr nötig, dachte er zumindest. Doch als er wieder auf den Bürgersteig trat, vertieft in seinen düsteren Gedanken, rannte ihn ein Jogger fast um.
»Pass doch auf!«, schnaufte dieser zwischen zwei Atemzügen, die eine unheimliche Ähnlichkeit mit den Geräuschen hatten, die er gerade gehört hatte.
Erschrocken wich Noah zurück und blickte dem Mann hinterher, der ungerührt weiterlief. Nur ein leichtes, kaum merkliches Kopfschütteln deutete darauf hin, dass der Jogger sich gerade über diesen drogenverquollenen Mann aufregte, der ihn aus seinem Tempo gebracht hatte.
Der Jogger war ein etwas älterer Mann, vielleicht um die fünfzig Jahre alt, mit sehnigen Muskeln, die bei jedem Schritt unter der Haut nach oben gedrückt wurden, als würden sie versuchen, aus ihrem fleischigen Gefängnis auszubrechen. Seine Haut war braun gegerbt von der Sonne und seine Haare waren fast militärisch kurz gestutzt. Er trug ein ärmelloses, blaues Sportshirt, eine orangene Hose und nagelneue Nike-Laufschuhe. Die Farben der Schuhe hatten noch nicht den rußigen, grauen Ton von Sportschuhen, die sie nach spätestens einem Monat Dauerbenutzung annahmen, sondern leuchteten noch grell in der Sonne, als wären sie mit einem fluoreszierenden Licht eingeschmiert