Devolution. Ralph Denzel
dort, unfähig sich zu bewegen. Falls ihr Verstand noch fit genug war, um zu verstehen, was hier gerade passierte, würden sie wohl in blanker Todesangst daliegen und gedemütigt in ihren eigenen Exkrementen auf den sicheren Tod warten. Demenz war wohl doch nicht immer das Schlimmste. Die Menschen, denen ein solches Schicksal bevorstand, waren hoffentlich dieser Welt weit genug entrückt, als dass sie noch etwas davon mitbekommen konnten.
Er erinnerte sich an die Schlangen, die sich vor den Krankenhäusern gebildet hatten. Jeder hatte gehofft, er würde ein »Schlafmittel« oder sonst irgendetwas bekommen, damit er seinem Leben ein Ende setzten könnte, wenn er es wollte und nicht, wenn es ein Himmelskörper bestimmte. Ein lächerlicher Versuch. Das, was dagewesen war, war entweder von den Angestellten direkt an Patienten ausgegeben oder geklaut worden. Wartende, die Schwestern und Ärzte angefleht, bedroht und zusammengeschlagen hatten, in der Hoffnung, ein Mittel für ihren Abgang zu bekommen, waren meistens leer ausgegangen.
Das war natürlich vor »Silencium« gewesen. Danach hatte es nur noch vor dem Stadion Schlangen gegeben.
Schlange stehen um zu sterben. So verrückt konnte nur Deutschland sein.
Der Jogger war nur noch ein kleiner, blauer Strich in einiger Entfernung und auch Noah setzte seinen Weg fort. Vielleicht glaubte der Mann wirklich, was er gesagt hatte. Vielleicht wusste er jedoch auch, wie die Realität aussah. Noah schämte sich, dass er so reagiert hatte. Jeder Mensch ging mit dem Ende auf seine Weise um. Vielleicht war es sogar die beste Weise, wie der Jogger damit umging. Oder Margnuson hatte doch recht gehabt.
Er kam an einem Mehrfamilienhaus vorbei, während er darüber nachdachte.
m Augenwinkel nahm er eine Bewegung im zweiten Stockwerk wahr. Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren stand dort an der Brüstung. Seine Kinder saßen darauf. Um ihre Hälse waren Stricke gebunden, die mit der Metallverstrebung verbunden waren.
Noah schluckte, auch wenn er noch nicht ganz genau verstand, was hier eigentlich gerade passierte.
Es waren drei Kinder, zwei Mädchen von circa dreizehn und sieben Jahren und ein Junge von ungefähr fünf, vielleicht auch jünger.
Der Kleine grinste Noah an. Für ihn schien das alles ein großes Abenteuer zu sein. Eine Ausnahmesituation, die es mit der kindlichen Neugier zu erforschen galt. Er winkte fröhlich, während er die Beine über die Brüstung baumeln ließ und freudig gegen die Holzverkleidung des Balkons hämmerte.
Er drehte sich zu seinem Vater um. Der Mann weinte unablässig, als er seiner Ältesten über den Kopf strich und versuchte, sie zu trösten. Er wandte seinem Sohn den Rücken zu, sodass die Tränen vor ihm verborgen blieben.
Leise und kaum hörbar trieben die letzten Worte zwischen dem Vater und seiner Tochter zu Noah. Bei einem normalen Abend in Konstanz hätte er sie nicht verstanden, dazu wären die Hintergrundgeräusche zu laut gewesen. Die Menschen am See, die sich unterhalten hätten, die Köche vom Gourmetrestaurant in einigen Metern Entfernung, die rauchend über ihre Dienstpläne sprachen und sich über die Sonderwünsche der Gäste mokierten. Bis auf das leise Stöhnen im Hintergrund war es jedoch ruhig, absolut ruhig.
Und so wurde er Zeuge von einem weiteren letzten Mal.
»Ganz ruhig, mein Schatz, ganz ruhig«, schluchzte der Mann. »Es geht ganz schnell. Wie wenn du mit einer Achterbahn fährst. Erinnerst du dich, letztes Jahr mit Mama im Europapark? Wie im Silver-Star. Kurze Zeit bist du schwerelos – und dann …« Er stockte, wischte sich über die Augen, schluckte schwer.
»Dann sind wir wieder bei Mama!« Er küsste seine Tochter sanft auf den Kopf. Dabei presste er seine Augen fest zusammen, als wollte er die Realität um sich herum ausblenden. Seine Lippen klebten auf den braunen, schulterlangen Haaren seines Kindes, das unablässig schluchzte. Nach einer halben Ewigkeit löste er sich von ihr, streichelte über ihre Wange und legte seinen Arm um seine andere Tochter.
»Hätten wir es nicht auch so machen können wie Mama?«, fragte die Ältere. Sie bemühte sich mit all ihrer Kraft, die Fassung zu bewahren.
Noah hätte eigentlich wegschauen sollen. Aber er konnte nicht. Er spürte einen Kloß in seinem Hals, der ihm die Luft zum Atmen nahm. Es war ein ekelhaftes, grauenhaftes Schauspiel, was sich ihm hier bot. Seine Beine wurden steif wie Stein.
»Weil wir keine Medikamente hatten. Wir hatten nur ganz wenige und die Mama hat die meisten genommen. Der Rest reicht nicht. Und am Stadion war keiner mehr.«
»Warum hat sie uns keine übrig gelassen?«, fragte die etwas jüngere Tochter. Ihre Stimme klang schrill und durchdringend und bebte bei jedem Wort voller panischer Angst.
»Papa, wann darf ich denn jetzt endlich fliegen?«, nörgelte der kleine Junge und klopfte jetzt ungeduldig mit seinen Füßen gegen die Balustrade. Den fremden Mann, der vor ihrem Balkon stand und sie mit einem entsetzten Gesicht anstarrte, bemerkte er gar nicht.
»Gleich, Flo!«, sagte der Mann verzweifelt und mühevoll. Seine Stimme war kurzzeitig streng und böse geworden, aber er hatte sich noch rechtzeitig gefangen. Dann drehte er sich wieder zu seiner Tochter, lächelte sanft, streichelte ihr über den Kopf.
»Seit wann willst du denn Medikamente schlucken?« Durch seinen Tränenvorhang zwinkerte er ihr kurz zu. »Wäre ja das erste Mal gewesen, dass du das freiwillig machst.« Er küsste sie erneut und streichelte auch ihren Kopf, presste ihn gegen seine Brust. Das Schluchzen seiner beiden Mädchen wurde lauter und lauter und hallte gedämpft von seinem bebenden Brustkorb durch die leeren Straßen.
»Ich liebe euch. Ich liebe euch so sehr. Das Schönste was ich erleben konnte, war …« er brach ab, sprach nicht weiter, sondern handelte, bevor ihn der Mut verließ – und schubste die beiden Mädchen vom Balkon.
Ein kurzer, panischer Aufschrei dröhnte vom gegenüberliegenden Haus und erzeugte ein schreckliches Echo. Dann baumelten die beiden Mädchen an ihrem improvisierten Galgen.
Wenigstens habe ich das Knacken nicht gehört, dachte sich Noah. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er wollte gehen, das hinter sich lassen, aber dieses grausame Schauspiel ließ ihn nicht los, hielt ihn gefangen wie eine Würgeschlange.
Er sah wieder seinen Kater vor seinem inneren Auge. Wie bei den Kindern hatte auch dort der Kopf so abartig unnatürlich gebaumelt. Der Kopf des Tieres verwandelte sich in die alte Großvateruhr seiner Eltern, die sie immer in ihrem Wohnzimmer stehen hatten. Nur dass das Pendel nicht aus Messing war und bedächtig hin und her schwang – nun waren es die Köpfe der Mädchen, die hier wie Verbrecher aufgehängt worden waren und sanft in der Abendbriese baumelten.
»Papa! Guck! Miriam und Anna schweben! Guck doch, Papa!«, kreischte der Junge voller Begeisterung. »Guck doch, Papa! Guck! Sie fliegen!«
Der Mann war über die Brüstung gebeugt, weinte hemmungslos. Das war wohl zu viel für jeden Menschen – ganz zu schweigen für einen Vater. Sein Junge jedoch beugte sich immer weiter nach vorne und Noah spürte, wie sich in seiner Kehle ein ängstlicher Schrei bereitzumachen schien. Pass auf, Kleiner, sonst fällst du runter.
»Darf ich jetzt auch fliegen, Papa? Darf ich? Darf ich?«
Es dauerte eine Weile, bis der Mann sich wieder aufraffte.
»Warum weinst du denn?«, fragte sein Sohn jetzt ein bisschen beunruhigt. Wahrscheinlich war er davor zu sehr damit beschäftigt, sich auf das vermeintliche Fliegen zu freuen und hatte so auch nicht mitbekommen, welches Drama zwischen seinen Schwestern und seinem Vater abgelaufen war. Nervös blickte er seinen Vater an.
Dieser riss sich zusammen. Er drehte sich kurz weg, wischte sich über die Augen und schnaufte laut ein und aus. Sein Blick ging in Noahs Richtung, aber er blickte direkt durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht da. Nur wenige Sekunden schien er ihn zu bemerken, als seine Augen flehentlich zu sagen schienen: Bitte verurteile mich nicht. Ich mache es für meine Kinder.
Dann drehte er sich zu seinem Sohn. Langsam und bedächtig ging er auf ihn zu, streichelte auch ihm über den Kopf und zerzauste ihm die Haare. Noah hatte keine Kinder und er wusste nicht, wozu man fähig war, wenn man welche hatte. Aber nun sah er, wozu man wohl fähig sein konnte, wie