Devolution. Ralph Denzel

Devolution - Ralph Denzel


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der die beiden saßen.

      »Schaut mal wer da auch noch kommt!« Tom drehte sich um und lachte fröhlich auf. Dann umarmte er Noah herzlich, ohne jedoch aufzustehen. Die Umarmung fühlte sich gleichzeitig wohltuend und wie ein Abschied für immer an und ließ Noah nochmals leise aufschluchzen. Tom hörte es und drückte seinen Arm noch einmal fester um die Brust seines Freundes, als wollte er ihm so etwas mehr Mut zusprechen.

      »Meine Fresse, siehst du scheiße aus!«, urteilte Chris über Noahs Erscheinungsbild, was diesem ein kurzes, gequältes Lächeln abrang. Chris Stirn war in Sorgenfalten gelegt, während er seinen Kumpel umarmte. Es fühlte sich nicht ansatzweise so herzlich an wie bei Tom, dachte Noah. Mehr wie eine Pro-Forma-Geste, die kaum mehr Bedeutung hatte.

      »’n Abend Leute.« Noah versuchte zu lächeln, was ihm jedoch missglückte. Tom warf ihm einen kurzen Blick zu, der zu sagen schien, er solle diese Scharade aufgeben. »Heute ist ein guter Tag zu sterben«, überspielte Noah seine wahren Gefühle mit einer flapsigen Bemerkung. Mehr fiel ihm im Moment nicht ein, und so hingen diese Worte mit einem bitteren Beigeschmack über ihm und seinen Freunden.

      »Ha! Aber Hallo!«, erwiderte Chris, fasste zwischen seine Beine und holte eine Flasche Bier hervor. Seine Stimme klang irgendwie tonlos und weit weg, als würde er durch ein Funkgerät mit ihnen sprechen.

      Erst jetzt sah Noah, dass unter der Bank ein Kasten Bier stand, was ihn für einige Sekunden seine Sorgen vergessen ließ. Lächelnd nahm er das angebotene Bier und öffnete es mit einem Feuerzeug. Etwas Kohlensäure entwich mit einem leisen Zischen aus der Öffnung, und Noah trank gierig mehrere Schlucke. Das Bier schmeckte kalt und erfrischend, wenn es auch ziemlich bitter und eigentlich nicht seine Hausmarke war. Am Ende der Welt durfte man nicht unbedingt wählerisch sein, dachte er sich und ließ sich neben Tom nieder. Sag mir, was los ist, sagte sein Blick, aber Noah schüttelte nur leicht den Kopf. Sein Kumpel fixierte ihn noch etwas mit seinen Augen, wandte sich jedoch nach einer Weile wieder dem Einschlagsort in den Alpen zu.

      Sein Gesicht verdüsterte sich für wenige Sekunden, was für Noah beruhigender wirkte als alle schönen Worte, die er hätte sagen können. Er spürte, dass er in diesem Moment nicht alleine war mit seiner Angst. Er fühlte sich etwas leichter und nahm einen neuen Schluck.

      »Tja«, begann Tom irgendwann, nachdem alle schweigend nebeneinander gesessen hatten und jeder seinen eigenen, düsteren bis depressiven Gedanken nachgehangen war. Seine Stimme wirkte fest und gefasst, als würde er zu einer donnernden Predigt ansetzen. Aber er sagte nur ein paar kurze Worte.

      »Willkommen bei der Apokalypse.«

      Dem war nichts mehr hinzuzufügen.

      Die Männer stießen mit ihren Bieren an und tranken.

      Ja, dem war wirklich nichts hinzuzufügen.

      Die Freundschaft war immer so wichtig für alle vier gewesen, und nun spürte Noah auch warum. Es war das Gefühl, dass alles irgendwie richtig war, so wie es war. Die Angst verschwand, langsam, aber sie verschwand.

      Er seufzte und blickte auch zu den Alpen.

      Willkommen bei der Apokalypse.

      Es dauerte eine Weile, bis wieder jemand das Wort ergriff.

      »Wisst ihr, was mich richtig ärgert?«, fragte Tom in die Runde. Er wartete eine Weile, als wollte er Spannung aufbauen, bevor er eine Antwort auf seine eigene Frage gab.

      »Jetzt habe ich mir über die Jahre und vor allem im letzten Jahr angewöhnt, früh aufzustehen und dementsprechend auch früh ins Bett zu gehen. Und jetzt muss ich fast die Nacht durchmachen, bis«, er zögerte und dachte eine Weile über die richtige Wortwahl nach, »bis ich wieder schlafen kann.« Darauf nahm er einen tiefen Schluck.

      Chris schaute auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist 19 Uhr 30 – noch etwas mehr als sechs Stunden.« Also würde der Asteroid um ungefähr zwei Uhr morgens deutscher Zeit einschlagen.

      »Zwei Uhr morgens. Ist es nicht irgendwie seltsam? Das alles so schnell vorbei sein wird?«, fragte Noah die anderen, immer noch unter den Eindrücken des Abends stehend mit einem ängstlichen Zittern in seiner Stimme.

      Weder Tom noch Chris antworteten sofort.

      »Kannst du uns nicht irgendwie Mut machen?«, fragte Chris Tom. In seiner Stimme lag ein leichter Anflug Sarkasmus, was jedoch von Tom ignoriert wurde.

      »Glaubst du das denn?«, gab dieser mit sanfter und freundlicher Stimme zurück. Man merkte, dass er die letzten Jahre ein Priesterseminar genossen hatte und daher auch wusste, wie man mit zweifelnden Schäfchen umgehen musste.

      Chris lachte höhnisch auf. »Ich glaube daran, dass das »Deutsche« zuletzt in den Menschen gestorben ist.« Er nahm einen tiefen Schluck und blickte ein paar Sekunden ins Leere, bevor er fortfuhr.

      Noah lächelte, denn das stimmte seiner Meinung nach.

      »Wisst ihr, die letzten Wochen, in denen ich den Menschen am Seestadion geholfen habe …« Das Wort »geholfen« hatte er wohl mit Bedacht gewählt. Man konnte nicht sein ganzes Leben danach trachten, Menschen zu retten, um dann den Rest seines Lebens danach auszurichten, das Leben von anderen zu beenden. Den Widerspruch löste er auf, indem er die Euthanasie als »helfen« bezeichnete.

      »Was ist denn da passiert?«, unterbrach ihn Noah bevor Chris seinen Satz beenden konnte. Dieser fuhr jedoch ungerührt fort.

      »Die Leute haben Schlange gestanden, wie es Deutsche immer gemacht haben. Wir haben erwartet, dass die Menschen durchdrehen, drängeln, aber keiner hat gedrängelt. Alle haben gewartet, waren höflich und gefasst. – Es war alles so – so deutsch.«

      »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, erwiderte Tom, immer noch freundlich und ohne Drängen in seiner Stimme.

      Chris blickte Tom an. In seinem Gesicht lag eine Art von Ekel und Abscheu.

      »Leck mich, Pfaffe!« Er zeigte ihm den Finger. Seine Worte und seine Geste waren wohl gespielt, aber trotzdem lag auch jede Menge Ernsthaftigkeit darin. Tom und Noah lachten dumpf.

      »Nein, ich glaube nicht. Ich kann es einfach nicht mehr.« Er sagte dies mit voller Überzeugung. Die anderen beiden spürten es überdeutlich und zuckten leicht zusammen, so unerschütterlich war seine Überzeugung.

      »Ich habe Kindern, die kaum die Augen offen gehabt haben, »geholfen«, Müttern, Vätern, ganzen Familien. Ich habe Hunderte von Menschen getötet.« Seine Stimme wurde etwas leiser. Es schien, als würde er von weit, weit weg erzählen. »Es ist unglaublich schwer, einen Fontanellenzugang zu legen. Einmal habe ich mich verstochen. Ich habe drei Anläufe gebraucht, bis ich das Kind endlich – bis ich dem Kind endlich geholfen habe. Es hat die ganze Zeit gebrüllt wie am Spieß. Und dann war es plötzlich ganz ruhig.« Er zögerte. Seine Hand begann leicht zu zittern. Er schloss sie zu einer Faust, blickte sie für einige Sekunden an und öffnete sie dann in einer fließenden Bewegung wieder mit der Handfläche nach unten gerichtet, als würde er etwas fallen lassen.

      »Und dann? Wir sind so abgestumpft gewesen.« Es war das erste Mal, dass er diese Worte laut aussprach. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, wie tief ihn all das berührt hatte, was er gesehen hatte. »Wir haben das Kind wie ein Stück Müll auf einen Haufen geworfen. Zusammen mit anderen Kindern. Ein paar Stunden später war das Kind von unzähligen anderen Leichen bedeckt gewesen.«

      Er nahm einen tiefen Schluck Bier, fummelte nach einer Zigarette. Seine Hand bebte unkontrolliert wie bei einem Parkinsonkranken. Er blickte etwas über seine Schulter in Richtung des Stadions, dass nur wenige Kilometer von ihrer Position entfernt lag. Sein Blick verdüsterte sich wie der Himmel bei einem starken Gewitter.

      »Dieser ekelhafte Gestank. Ich bin froh, dass es bald vorbei ist.«

      »Darum glaubst du nicht mehr?«, fragte Tom und biss sich direkt auf die Zunge, denn diese Frage war unnötig gewesen und verursachte wohl nur neuerliche Schmerzen.

      »Nein. Ich glaube nicht. Denn wenn ich glauben würde, dann würde es für mich doch jetzt nur einen Ort geben, an den ich komme, oder? Was passiert wohl mit einem


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