Sarah Kern - LEBEN!. Sarah Kern
alten Mann aus dem Restaurant direkt ins Hotelzimmer gegangen war – für lieblosen schnellen Sex.
»Warum hast du das mitgemacht?«, fragte ich sie verständnislos.
»Von irgendwas muss ich ja leben«, bekam ich zu hören.
Das gab mir in doppelter Hinsicht zu denken. Zunächst einmal, wo war da der Unterschied zwischen Model und Hure? Und eine einträgliche Alternative war der Agentur bei diesem Geschäftsmodell auch sicher. Erhielt ein Model zu wenig Aufträge und war deshalb knapp bei Kasse, hielt man eine vermeintliche Lösung parat.
Auch Drogen gehörten zum „Spiel“, standen auf sogenannten Model-Partys von und für Männer der guten Gesellschaft – mit Geld bis zum Abwinken – auf fetten Tellern bereit. Schampus und Koks waren keine Ausnahme, sondern die Regel.
Selbst die „Bullen“ auf der Straße pfiffen einem hinterher und ließen den Gockel heraushängen: »Ciao bionda«, bla bla bla, rhabarber rhabarber. Ich konnte den Scheiß irgendwann nicht mehr hören.
Schon etwa ein halbes Jahr lebte ich als Model in Mailand und hielt mich so gut es ging von den Untiefen des Geschäftes fern. Es blieb aber nicht aus, hin und wieder auch ins Restaurant eingeladen zu werden und Konversation mit Agenturpartnern zu betreiben. Ein Mann namens Dino, Italiener aus Mailand, saß bei einer Gelegenheit am vollbesetzten Tisch direkt neben mir und war angetan. Sympathisch fand ich ihn durchaus auch. Trotzdem machte ich aus meiner Einstellung keinen Hehl und schlug ihm frech lachend vor, sich für den späteren Abend besser an die anderen Mädchen zu halten.
»Ich will gar nichts von dir, du freche Dänin, du. Ich habe da auch meine klare Einstellung. Aber ich finde dich witzig, du hast Charakter. Ich werde dich beschützen.«
Und mit wohlwollendem Grinsen ergänzte er: »Wenn ich dich nicht haben darf, darf dich auch kein anderer verspeisen. – Komm doch morgen zu mir, ich gebe eine Party. Du wirst es mögen. Was hältst du davon?«
Etwas an seiner offenen Art und dem charmanten Humor sagte mir, ich konnte ihm vertrauen. Auch lud er die übrigen Models am Tisch nicht ein, obwohl er mit denen auf Wunsch leichtes Spiel gehabt hätte. Ja, ich war bereit, den kleinen Italiener am nächsten Tag zu besuchen.
Die Gasse lag in einem alten Teil der Innenstadt. Sie war breit und wirkte mit dem alten Mauerwerk der Fassaden, den gusseisernen Straßenlaternen düster. Auch war die Sonne bereits untergegangen, was zu der Stimmung beitrug. Wo war die gesuchte Hausnummer? Sollte etwa jenes „Scheunentor“ dazugehören? Und wirklich, so war es. Nicht schäbig, aber auch nicht gerade ein herrschaftliches Eingangsportal. Ich hatte etwas anderes erwartet und haderte, zumal die gesamte Häuserfront keinen Glanz verströmte. Anstatt einer Klingel, die ich vergeblich suchte, gab es einen Metallstab, der durch Ziehen einen Mechanismus auslöste. Weil mir das befremdlich vorkam, klopfte ich zur Sicherheit auch gegen das massive Holz.
Kurz darauf wurde das Portal geöffnet, und die noch junge Stéphanie von Monaco stand mir gegenüber. Ein kurzes »Salut!« und »Au revoir!«, und sie spazierte in der Gasse davon. Sieh an, so falsch konnte ich wohl doch nicht sein und trat ein in eine andere Welt, irgendwo zwischen Kitschroman und Walt-Disney-Märchen. Nach links oder rechts? Beide Richtungen bot mir der Kiesweg im üppig begrünten Innenhof an. Ich entschied mich für rechts und passierte einen künstlichen See, den ich über eine verspielt surreale Holzbrücke überquerte. Die Krönung des Absurden waren zwei lebende Schwäne inmitten des Gewässers, die einander zugewandt nun auch noch die Hälse zum Herz formten. Mein lieber Mann, Dino, du trägst aber mächtig dick auf, dachte ich noch und was es wohl kostete, eine ganze Hollywood-Kulisse nach Italien verfrachten zu lassen.
Das Haus stand offen, und ich befand mich auch schon inmitten eines rauschenden Festes mit sexy Schönheiten und auch sonst allem, was gewöhnlich eine Model-Party ausmachte. Was für ein Kontrast, wie in einem Fellini-Film. Die Einrichtung war geschmackvoll und gediegen, überall namhafte Fotokunst. Bei anderen Gästen, die offensichtlich selber fremd waren, aber dennoch zwanglos ihrer Langeweile bekämpften, fragte ich nach dem Gastgeber. Niemand wusste nichts Genaues. Zwei Etagen hatte das Haus außer dem Erdgeschoss, also begann die Suche.
»Dino, Dino!«, rief ich mantraartig.
Wenn ich schon einmal dort war, wollte ich ihn auch sehen, und zu den oberflächlichen Weibern im Erdgeschoss wollte ich mich keinesfalls setzen, da wäre ich lieber wieder gegangen. Verdammt nochmal, wo war er! Wie ich während meiner Entdeckungstour herausfand, gab es noch ein abgedunkeltes Kellergeschoss, was nichts anderes war als eine Schwimmhalle – aber ohne Dino. Am Ende zählte ich im Ganzen vier Kellergeschosse. Kaum zu glauben, wer nannte denn so etwas sein Eigen? Das war ja tiefer als die Moskauer Metro! Monumentale Palastarchitektur und prunkvolle Gewölbe mit Kronleuchtern wie dort fand ich zwar nicht, dafür aber noch eine Tennishalle, in der Dino mit einem Supermodel gerade den Tennisschläger kreisen ließ.
Er freute sich mich zu sehen und unterbrach die Partie für eine eingehende Unterhaltung. Auf der Treppe zur Tennishalle sitzend, erzählten wir uns von unserem Leben, und er bekräftigte sein Versprechen, während meiner Zeit in Italien auf mich aufpassen zu wollen. Dieser Mann begegnete mir ohne Hintergedanken, nur auf Grundlage von Sympathie und Respekt. In Mailand blieb er für mich die einzige Persönlichkeit von Format.
Unverhofft sollte ich wieder vor einer schwerwiegenden Entscheidung stehen, ausgerechnet während des nachmittäglichen Castings in einem Hotel – was sich so Casting nannte. Wie die sprichwörtlichen Hühner saßen richtige Prachtweiber und eben auch ich im improvisierten Vorzimmer und warteten. Eine nach der anderen wurden wir zum Gespräch hereingerufen. Als ich an der Reihe war, erwartete mich der Inhaber einer der namhaftesten Pariser Modelagenturen im Bademantel auf einem Bett liegend, der obligatorische Teller mit Koks zu seiner Linken.
Mit französischem Akzent sprach er lasziv die Worte: »Ah, petit Sarah. I make you a Megastar, if you fly with me tomorrow to Paris ...«
Es war ein sehr kurzer Moment der Entscheidung, bevor ich ihm aus voller Überzeugung mitteilte, dass ich ihn weder ficken noch mit ihm nach Paris fliegen würde. Er war nicht eben amüsiert, klagte mich vielmehr entrüstet an, was ich mir wohl einbilden würde, er hätte schließlich schon … – es folgte eine Aufzählung derer, die angeblich schon durch sein Bett gegangen waren, eine zugegeben beeindruckende Namensliste.
»Wie dumm bist du eigentlich, dass du diese Chance nicht nutzt! Ich mache dich zum Megastar!«, legte er nach.
Und er hätte es wirklich getan, mir zu einer Karriere verholfen, das war mir in dem Augenblick klar. Aber wenn nicht in diesem Hotelzimmer, dann hätte ich spätestens in Paris mit ihm schlafen müssen, das war mir genauso klar. So verließ ich dieses Casting der speziellen Art, um stattdessen Kontakt zu einer anderen namhaften Pariser Modelagentur aufzunehmen. Denn nach Paris wollte ich unbedingt, weg aus Mailand. Eine Woche später war klar, ich ziehe nach Paris. Also rief ich meine Agentur in Düsseldorf an, um die aktuelle Planänderung mitzuteilen. Ich war mittlerweile siebzehn Jahre alt.
Auch in Paris lebte ich in einer Model-WG, pendelte aber regelmäßig zwischen Paris, Düsseldorf und Köln. Düsseldorf, weil ich über „Model Pool“ nach wie vor gut gebucht war, Köln, weil ich nach wie vor gerne bei meinen Eltern wohnte, wenn ich zu Besuch war. Mit achtzehn Jahren lag mein Lebensmittelpunkt endgültig in Paris. Dort liebte ich es zu wohnen, zu arbeiten, das Leben zu genießen.
Das Schicksal ließ sich etwas Neues und Tiefgreifendes für mich einfallen, als ich 1988 im Alter von neunzehn Jahren im legendären Pariser Nachtclub „Les Bains Douches“ – kurz das „Les Bains“ – saß, wo ich in mehreren Modenschauen für den renommierten deutschen Modeschöpfer und -designer Otto Kern lief. Die Marke war sehr en vogue. Nachrichtensprecherinnen trugen seine Entwürfe, die Dame von Welt zumindest die Hosen. Sein Gesicht hingegen war weniger präsent, weil er in der Öffentlichkeit selten in Erscheinung trat und die Presse weitgehend mied. Aber das nur zum besseren Verständnis. Nach einer Schau saß ich also in der unteren Etage auf der VIP-Couch, zwischen den französischen Modeschöpfern Claude Montana und Jean Paul Gaultier. Nun hatte man von besagter Couch einen direkten Blick auf die hinauf- beziehungsweise hinabführende legendäre Treppe des „Les Bains“. Unübersehbar stand dort