Der Krieg der nie zu Ende ging. Will Berthold

Der Krieg der nie zu Ende ging - Will Berthold


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      Ich rechnete die Zeit zusammen, die sie benötigen würden, um auf die Zusammenhänge zu kommen – falls sie gerissen genug wären –, und stellte fest, daß es für mich noch keinen Grund zur Panik gab. Bis sie gezielt hinter mir her wären, würden sie meiner Rechnung nach noch mindestens zwei Tage brauchen. Wenn ich bis dahin den „fortschrittlichen Teil Deutschlands“ – wie ihre Propaganda tönte – noch nicht verlassen hätte, würde ich das voraussichtlich nie mehr schaffen.

      Ich passierte das Schkeuditzer-Kreuz, ließ den Flugplatz, auf dem ich gelandet war, hinter mir und bog bei der nächsten Ausfahrt auf die Landstraße nach Bitterfeld ab und zuckelte in Richtung Wittenberg weiter. Ich passierte eine idyllische Landschaft, Wiesen, Wälder, einen See. Ich hielt an, in der Art eines Mannes, der austreten muß, und wickelte den Funktionärsausweis Fritz Stenglein mit einem Stein in ein Taschentuch und schleuderte ihn in den See. Die Wellenringe wurden immer größer und die Gefahr immer kleiner. Ich zog die Lederjacke aus und verfuhr mit ihr genauso, nur daß ich einen größeren Stein benötigte. Es war schade um das schöne Stück mit der eingenähten Inschrift „HO-Berlin“. Aber an einen Lumberjack konnte man sich erinnern, weniger jedoch an einen grauen Sommerpullover, den ich darunter getragen hatte. Nach den Regeln des Untergrunds hätte ich Stengleins Ausweis verbrennen müssen, aber falls das Dokument überhaupt je gefunden würde, wäre es durch das Wasser unleserlich geworden.

      Als ich weiterfuhr, war ich kein Parteifunktionär aus Hoyerswerda mehr, sondern der DDR-Bürger Martin Lange, laut Ausweis mit festem Wohnsitz in Berlin, Friedriehstraße. So würde ich von den abriegelnden Soldaten nicht aufgehalten werden. Mit ein paar Handgriffen hatte ich mein Gesicht dem Paßfoto angepaßt: leicht getönte Brille, ein aufgeklebtes Bärtchen auf der Oberlippe und einen volleren Gesichtsausdruck mit Hilfe von zwei in die Backenseiten geklemmten Hartgummiplatten. Sie störten freilich beim Sprechen, aber ich hatte trainiert, mich trotz Sprachfehler verständlich zu machen.

      Die Zulassung des „Trabant“ war echt, und es war anzunehmen, daß sich der rechtmäßige Nutznießer gestern oder vorgestern in die Bundesrepublik abgesetzt hatte. In diesen Wochen war es verhältnismäßig leicht, sich für Ostgeld ein Auto zu kaufen. Mit dem Wagen gelangte man nur in Ausnahmefällen in den Westen: Auto, Wohnung, Möbel, Hund, Kanarienvogel und das Grab der Eltern blieben zurück, wenn man zum Beispiel in Leipzig in den D-Zug nach Rostock stieg, bei der Kontrolle vor Berlin seine Fahrkarte als Beweis für den Transit-Verkehr zückte und dann ausstieg, um mittels S-Bahn in eine besitzlose Freiheit weiterzurollen.

      Ich bin Amerikaner, aber ich war als Deutscher zur Welt gekommen, und so empfinde ich die Tragödie der deutschen Zweiteilung stärker als meine neuen Landsleute. Ich war in Berlin aufgewachsen und dann nach 1945 von dem berühmten Onkel in Amerika in die Staaten geholt worden. In meiner Heimat hielt mich nichts mehr: Mein Vater war gefallen, meine Mutter und mein jüngerer Bruder sind bei einem Luftangriff von einer Bombe erschlagen worden.

      Die Sowjets hatten ihre Westgrenze um vier Fünftel näher nach Europa hineingetrieben. Wenn Stalin wollte, konnten seine Panzer ungehindert bis zum Atlantik durchbrechen. Jedenfalls hatte ich schwarz für Europa gesehen, und so wurde ich einer der ersten deutschen Auswanderer, die, zusammen mit ein paar GI-Bräuten aus Germany, damals noch mit einer viermotorigen Propellermaschine, in die Staaten ausflogen. Noch bevor ich die US-Staatsbürgerschaft erhielt, wurde ich als Marineinfanterist nach Korea geschickt. Der Krieg, dem ich in Europa hatte ausweichen wollen, holte mich in Fernost ein.

      Ich fluchte, biß die Zähne zusammen und tat, was zu tun war. Irgendwie fiel ich dabei angenehm auf, denn nach Beendigung des Konflikts am 38. Breitengrad wollte mich die US-Army behalten. Ich erhielt einen US-Paß, wurde zum Captain befördert, wegen meiner Sprachkenntnisse zum Geheimdienst kommandiert und für den Untergrund nach allen Regeln der umstrittenen Kunst gedrillt.

      Ich habe mich niemals in diese Branche gedrängt, aber was sein muß, muß sein. Wenn der Osten Tausende von Agenten in den Westen einschleust, kann dieser nicht auf Gegenmaßnahmen verzichten. Ich wollte nicht eines Tages wieder unfreiwillig am Yalu oder das nächste Mal vielleicht sogar am Rhein oder Main kämpfen müssen. Das würde mit Sicherheit geschehen, wenn der Westen der Unterwanderung mit östlichen Agenten tatenlos zusähe.

      Man muß die Arbeit im Untergrund so unromantisch und notwendig ansehen wie die Tätigkeit für die Müllabfuhr. Ich tröstete mich damit, daß mein Metier wenigstens nicht so übel röche, obwohl es mitunter doch weit anrüchiger sein kann. Müllabfuhr ist übrigens gut, denn ohnedies sind die meisten Müllwerker in Westdeutschland Gastarbeiter.

      Der Colonel und ich – sein junger Mann – waren nach einem Gespräch am Washingtoner Kamin zwischen Präsident Kennedy und Bundeskanzler Adenauer als Leihgabe nach Germany entsandt worden. Mein Chef ist der mysteriöse Colonel mit dem im Untergrund legendären Decknamen „The Joker“, und diese Trumpfkarte spielt man bekanntlich immer dann aus, wenn das Spiel schlecht steht.

      Das war zum Beispiel vor kurzem in Kubas Schweinebucht der Fall gewesen. Die Central-Intelligence-Agency hatte so versagt, daß der erboste US-Präsident sie kuzerhand auflösen wollte. Colonel Highmiller, der Joker, hatte in Rekordzeit die Fehlerquelle gesucht, den Laden gesäubert und reorganisiert, in aller Stille und aus dem Hintergrund. Die betroffenen Sündenböcke wußten nicht einmal, wie der Mann hieß, dem sie ihren Sturz verdankten. Seitdem waren der Joker und ich ein Gespann wie Herr und Hund, das heißt, daß der Colonel pfiff und ich apportierte.

      Ich sage das ohne Bitternis, denn der Joker war ein grandioser Jagdherr. Er litt so wenig an einer Kreuzzugs-Idee wie ich, und schon gar nicht an der dummen Überheblichkeit vieler Zeitgenossen, die im Osten alles schlecht und im Westen alles gut finden. So einfach liegen die Dinge nicht, aber ich bewertete meinen Job nicht politisch, sondern professionell: Und wer bei der Überlegung eines Autokaufs besonders seine Sicherheit berücksichtigt, tut es schließlich nicht, um mit seiner Neuerwerbung zu verunglücken.

      Ich war auf der Hut vor einer Kollision. An einem Tag wie diesem – nach dem Fenstersturz von Leipzig – benahmen sich die Vopos und SSD-Agenten wie aufgescheuchte Hornissen. Ich wußte nicht, ob Metzlers Rotgrüne als Stasi-Agentin die Falle für ihn aufgebaut hatte und wie lange und woher er sie kannte, aber wenn er unvorsichtig gewesen war, würden sie auch auf Deschler kommen, und von Deschler dann auf Megede stoßen.

      Hier drohte mir eine weitere Gefahr, denn der kleine Sachse arbeitete gleichzeitig für Pullach und für uns. Trotz peinlicher Geheimhaltung ließ sich nicht ausschließen, daß er bei der Agency Dinge erfahren hatte, die nur drei oder vier Personen in Deutschland bekannt sein sollten: daß Bonn zur Aufdeckung unerklärbarer Ereignisse im Bundesnachrichtendienst die Hilfe von US-Spezialisten aus Washington in Anspruch nahm. Wenn sie Megede gefaßt hätten und ihre verdammten Methoden anwandten, die so brutal sein konnten, daß sie noch Steine zum Reden brachten, wäre ich auch noch von dieser Seite her gesehen in Gefahr. Aber falls Megede überhaupt etwas wußte, hätte er bis jetzt bestimmt noch geschwiegen, es sei denn, er wäre ein Überläufer. Auch damit mußte man rechnen, deshalb arbeiten auch die westlichen Geheimdienste nach des Leipziger Wahlbürgers Lenin Devise: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

      Das Mißtrauen war mir so eingedrillt, daß ich mich gelegentlich beim morgendlichen Rasieren im Spiegel selbst schon schief ansah. Das war natürlich übertrieben, aber sonst hielt ich mich peinlich an die Spielregeln der unsichtbaren Front. Es war die einzige Lebensversicherung, die es für mich gab, mit sehr viel Kleingedrucktem. Von dem „Trabant“ ging keine Gefahr aus, aber ich würde ihn doch kurz vor Berlin stehen lassen und dann sehen, wie ich weiterkäme.

      Dicker Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe. Von Sommer keine Rede, er war auch schon zur Legende geworden. Ich schaltete das Radio ein, hörte die Nachrichten. Leipzig wurde nicht erwähnt. Ich suchte die von der CIA genutzte subversive Kurzwelle Berlins.

      Keine weitere Weisung.

      Ich fuhr durch Wittenberg, die Luther-Stadt an der Elbe, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem rauchigen Industrierevier geworden war. Ich passierte die Stadtkirche Sankt Marien, in der der Reformator einst gepredigt hatte. Ich entschloß mich, einen kleinen Umweg einzulegen in Richtung Magdeburg. Sicher ist sicher. Kurz vor Erreichen der Bürde fuhr ich in einer hakenförmigen Absatzbewegung


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