Der Krieg der nie zu Ende ging. Will Berthold

Der Krieg der nie zu Ende ging - Will Berthold


Скачать книгу
angehört hatte, was sonst für Pullachs Spitzengarnitur eine kaum umgehbare Voraussetzung war.

      Die Herren, die der Günstlings-Crew zugerechnet wurden, hatten ihre Stühle zwanglos im Halbkreis um den Schreibtisch des Chefs gestellt. Keiner von ihnen fühlte sich wohl an diesem Tag; übereinstimmend deuteten die Akteure des Untergrunds ein flaues Gefühl nach Eintritt des Debakels als Vorahnung. Die Besprechung war zunächst wie alle anderen verlaufen; es ging um Berlin, wie fast immer in letzter Zeit. Seitdem der rote Zar, Nikita Chruschtschow, und sein sächsischer Lautsprecher und Statthalter Walter Ulbricht der früheren Reichshauptstadt – zunächst verbal – die Daumenschrauben angelegt hatten, glich die Vier-Zonen-Stadt einem Pulverfaß. Mit sowjetischem Segen hatte der Spitzbart den Sowjet-Sektor, unter Bruch des Viermächte-Abkommens, zur DDR-Hauptstadt erklärt, mit Anspruch auf die westlichen Sektoren. Der neue US-Präsident Kennedy sprach offen aus, daß eine Abschnürung des alliierten Zugangs nach Westberlin den Dritten Weltkrieg bedeuten könne, und die Franzosen erörterten bereits die verhängnisvolle Frage: Mourir pour Berlin – Sterben für Berlin?

      Es war ein heißer Sommer, und es herrschten viel Kraftmeierei und Defätismus auf beiden Seiten. Pankow hatte 8000 Soldaten um Berlin zusammengezogen, um für die Bürger des „Arbeiterund Bauernstaates“ den Zugang in ihre eigene Metropole abzuriegeln. Viele Verkehrswege waren umgeleitet worden. Trotzdem ging ununterbrochen, Tag wie Nacht, ein Einbahnstrom von Flüchtlingen nach Westen. Die Ostdeutschen beteiligten sich zu Hunderten, zu Tausenden, zu Hunderttausenden, zu Millionen an der Volksabstimmung mit den Füßen.

      Der Chef kam vom Thema ab. Ohne Übergang wandte er sich an Dr. Grosse von der Gegenspionage. „Noch immer keine Verbindung mit Metzler?“ fragte er. Obwohl er vor seinem Braintrust keine Geheimnisse hatte, bedeutete die Frage in Gegenwart von vier weiteren Mitarbeitern einen Verstoß gegen die selbst aufgestellte Regel einer lückenlosen Geheimhaltung.

      „Sorry“, erwiderte der Referent; seine Stimme klang schläfrig, aber sein Adamsapfel bewegte sich aufgeregt. „Seit drei Tagen keine Nachricht. Nach seiner letzten Meldung ist Metzler nach Cottbus gefahren, und seitdem – “

      Grosse brach mitten im Satz ab, es bedurfte auch keiner weiteren Erklärung. Die unterbrochene Nachrichtenverbindung konnte ein normaler Vorgang sein. Tatsächlich hatten alle „im Feind operierenden Agenten“ den Befehl, die Funkstille nur bei außerordentlichen Vorfällen zu unterbrechen.

      Es brauchte nichts zu bedeuten, aber so hatte es immer begonnen: im Fall Auer im Januar; bei der Grainer-Affäre im März und bei der Panetzky-Sache im Juli. Januar, März, Juli. Schlag auf Schlag auf Schlag. Bis Ende Juli dieses Jahres waren 29 hochkarätige Agenten dem ostzonalen Staatssicherheitsdienst (Stasi) in die Falle gegangen. Im Vorjahr waren es 92 gewesen. Selbst wenn man einige Doppelagenten und Überläufer abzog, die aus propagandistischen Gründen im Osten hochgespielt worden waren, drohte der Aderlaß die bewährte „Firma“ zu ruinieren, denn drei in kurzen Abständen aus unerklärlichen Gründen hintereinander aufgeflogene Agentenringe konnte auch sie nicht verkraften. Das wußte jeder in dieser Runde, aber nur einer sprach es aus: Dennert, ein großer, knochiger Mann, erschrekkend hager. „Dann werden wir also auch Metzler abschreiben müssen“, sagte er. „Und womöglich auch noch Megede und Deschler.“

      Der General schwieg verbissen. Karsunke und Schluckesaft nickten zustimmend. Ausgerechnet der sonst so schweigsame Kleemann erwiderte gereizt: „Sie sollten wirklich keinen beerdigen, Herr Dennert, bevor er gestorben ist.“

      „Meinen Sie?“ entgegnete der Vize der Sonderabteilung „Strategischer Dienst“. Als stellvertretender Sicherheitschef war er der zweithöchste Hauspolizist und zudem ein Intimus des Generals. „Wenn ein Agentenring auffliegt, ist es eine Panne.“

      Dennert sprach in einem süffisanten, überheblichen Ton. Sein Plisseegesicht wirkte blaß und hautig. „Wenn zwei – oder gar drei – hochgehen und die Fehlerquelle noch immer nicht entdeckt ist, dann gibt es wohl nur eine Erklärung.“ Sein linkes Auge flackerte wie in einem Wackelkontakt. Jedenfalls litt er, mit seinem Drittel-Magen ohnedies kein Gesundheitsathlet, am sichtbarsten unter dem Wetter. Im übrigen geisterte über den Unbeliebten durch das Camp das vergiftete Bonmot: „Hoffentlich wird der Dennert so alt wie er aussieht.“

      „Was wollen Sie damit sagen?“

      „Es liegt auf der Hand“, erwiderte Dennert. „Eine undichte Stelle. Hier in Pullach – im Camp Nikolaus, macht uns allmählich zu Weihnachtsmännern.“

      „Das ist doch purer Unsinn“, warf Kleemann ein. „Wir hatten früher einen leichten Gegner gehabt und haben nunmehr einen schweren. Mit anderen Worten“, er lotete das Gesicht des Generals aus und registrierte stumme Zustimmung, „diese Stasi-Leute haben einfach dazugelernt – und wir müssen uns neue Wege einfallen lassen.“

      „Und ich sage, daß es in Pullach einen Maulwurf gibt“, entgegnete Dennert unbeirrt. „Einen Verräter, der das ostzonale Ministerium für Staatssicherheit, wenn nicht sogar das KGB direkt bedient – eine Laus in unserem Pelz.“

      „Hier im Camp?“ fragte Grosse verärgert.

      „Womöglich sogar unter uns Pfarrerstöchtern“, erwiderte der stellvertretende Sicherheitsbeauftragte zynisch; er hatte nichts zu verlieren. Er war die rechte Hand des Generals und schon aufgrund seiner Position bei den anderen Vertrauten unbeliebt. Dazu galt er als ein erstklassiger Fachmann, auch wenn die anderen heimlich darüber witzelten, daß er sich in seinem Büro einschloß und nur auf ein bestimmtes Klopfzeichen öffnete, jede Woche den Namen wechselte und die Überprüfung neu angeworbener Sekretärinnen so konspirativ betrieb, daß die Kripo München in einem Fall gegen ihn wegen Verdachts des Mädchenhandels ermittelt hatte.

      „Ich weiß, daß Sie unter dem Föhn leiden, Dennert“, griff der General ein. „Aber selbst wenn Sie rot sehen, sollten Sie nicht schwarz malen.“

      „Und Metzler ist einer unserer fähigsten und zuverlässigsten Leute“, konstatierte der kleine Karsunke.

      „Metzler schon“, erwiderte Dennert höhnisch. „Auer auch, um von Grainer und Panetzky gar nicht zu reden.“

      „Wenn Sie einen konkreten Verdacht haben“, versetzte der General pikiert, „dann kommen Sie zu mir, teilen Sie es mir unter vier Augen mit, und wir werden sofort handeln.“ Während er seinen Intimus tadelte, betrachtete er ihn irritiert. „Andernfalls muß ich Sie wirklich bitten, künftig pauschale Verdächtigungen zu unterlassen. Sie kennen mein Motto, Dennert? Ich bin bei unserer diffizilen und diskreten Tätigkeit für waches Vertrauen. Vergessen Sie bitte nicht, wir haben einen Ruf zu verlieren.“

      Pullach war ein Markenartikel des Untergrunds. Seit vielen Jahren schon. General Gehlen hatte mit seinem Startkapital, mit fünfzig Stahlkoffern, gefüllt mit Geheiminformationen über die Sowjetunion, gewuchert, seitdem er – kurz vor dem Zusammenbruch von Hitler noch abgesetzt – auf der Elendsalm in der Nähe des Schliersees aufgetaucht war. Erst zwölf Tage nach Kriegsende durch eine Denunziation in die Hände von Militärpolizisten gefallen, war er in Miesbach an den örtlichen Chef des Counter-Intelligence-Corps (CIC) gekommen.

      „Ich bin Generalmajor Gehlen“, hatte er sich dem Captain Marian E. Porter vorgestellt. „Der Chef der Abteilung Fremde-Heere-Ost’ im deutschen Oberkommando des Heeres.“

      „Sie waren es, General“, hatte der CIC-Offizier erwidert und den Untergrundchef wie einen gewöhnlichen „Prisoner of war“ wegschaffen lassen.

      Aber Gehlen kam wieder nach oben. Er ließ später seine versteckten Stahlkoffer ausgraben und überzeugte die olivgrünen Besatzer von seiner Wichtigkeit. Bald nannte ihn der greise Bundeskanzler „seinen lieben General“. Nach den Gründerjahren bezeichneten nicht nur die bezahlten Hofschreiber des Ex-Generals die Gehlen-Organisation als besten Geheimdienst der Welt, wenn es um Informationen hinter dem Eisernen Vorhang ging.

      Der amerikanische Geheimdienst (CIA) gab unumwunden zu, daß 70 Prozent aller Informationen über die Sowjetunion und ihren ostdeutschen Satelliten, die in Washingtons Pentagon eingingen, aus Pullach stammten. Der Secret-Intelligence-Service der Engländer (SIS), der französische SDECE und sogar Israels mossad


Скачать книгу