Darwin. Petra Werner

Darwin - Petra Werner


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Menschen verband. Hierher hatte er seine Fragen und seine Einsamkeit getragen, hatte er schleppenden Schrittes jahrzehntelang seine Runden gezogen. Heute war er am frühen Morgen zwischen den Baumstämmen dahingegangen und hatte über die Folgen der Domestikation von Tauben nachgedacht. In das Gesumm von Bienen hinein nannte er die Namen der Züchtungen: Schopftauben, Purzeltauben, Perückentauben, Mähnentauben, Rebhuhntauben, Pfauentauben, Verkehrtflügel-Kröpfer, Altdeutscher Kröpfer. Besonders die Kröpfer, Tauben mit riesiger gewölbter Brust und noch größeren, filzlatschenähnlich bewachsenen Füßen, mit denen es unmöglich war zu fliegen, interessierten ihn. Waren diese hochgezüchteten Haustaubenrassen, die alle aus der bescheidenen, eleganten Felsentaube hervorgegangen waren, nicht sehr gute Beispiele für die Macht des Menschen, die Natur zu beeinflussen? Übernahm nicht der Züchter gleichsam die Rolle der Natur? Friedfertig wie Tauben? So etwas konnte nur jemand sagen, der nichts über Tauben wusste, waren sie doch die zänkischsten Lebewesen, die er kannte. Ihm fiel der Satz ein: Die Poesie kommt zuweilen auf Taubenfüßen, und er musste an die plumpen, befiederten Füße der Zuchttauben denken und lächelte. Dann fielen ihm sogenannte Purzeltauben ein, die kopfüber Leitern herunterfielen. Wie viele unterschiedliche Taubenskelette lagen auf seinem Schreibtisch! Wie viele einzelne Knochen und Knöchelchen musste er vergleichen!

      Nachdem er mehrere Runden auf dem Think Path gedreht und jedes Mal mit der Spitze des Spazierstocks einen Feuerstein vom Haufen geschlagen hatte, blieb er für eine Weile in einem weißen, gezimmerten Kasten sitzen – einer Bank mit Regen- und Windschutz –, um ein paar Stichwörter in ein Notizbuch zu schreiben. Früher waren seine Notizbücher rot, nun schwarz eingebunden.

      Danach ging er durch die Gartentür zurück auf sein Grundstück und inspizierte die Blumen. In den Beeten steckten kleine Holzschilder, auf denen Nummern standen. Den Kindern hatte Darwin streng verboten, die Beschriftungen zu entfernen oder, was sie einmal getan hatten, um ihren Vater zu necken, gar zu vertauschen. Das Notizbuch in der Hand, stellte er fest, dass sich die Farbe einer spät blühenden Rosensorte wiederum verändert hatte, ein Vorgang, den die Züchter als »Brechen« bezeichneten – noch vor fünf Jahren hatte sie in einem sehr dunklem Rot geblüht, das sich aber von Generation zu Generation in ein blässliches Rosa verwandelt hatte. Selten zeigten sich diese Änderungen nach Beobachtung von Darwin im Laufe eines Pflanzenlebens, vielmehr in der Abfolge von Generation zu Generation. Manche Rosen mit ursprünglich einzeln stehenden Blüten waren nun in Büscheln gewachsen, mit Blütenblättern, die von dunklem Bronze bis zu Weiß mit gelben Einsprengseln alle Farbtöne zeigten. Darwin war fasziniert, wenn auch nicht überrascht, hatte er doch denselben Effekt bei Chrysanthemen, Azaleen, Dahlien und Stiefmütterchen bemerkt. Aber nicht nur die Blüten hatten sich gewandelt, auch die Blätter von Bäumen, was ihnen ein anderes Aussehen verlieh, bewegten sich doch dreieckige Blätter im Wind anders als herzförmige oder runde. Nachdem Darwin sich, noch immer sein Notizbuch in der Hand, im Garten umgeschaut hatte, ging er ins Gewächshaus, um nach den Orchideen zu sehen.

      Seit er zum ersten Mal einen Dschungel betreten hatte, interessierten sie ihn besonders, die traubigen, meist vielblütigen Blütenstände mit den großen Lippen, die Käfer und andere Insekten anlockten. Die Namen, die er ihnen gab – unabhängig davon, ob sie wirklich so hießen – beschrieben ein Geheimnis, ein Beispiel war der »Venusschuh«, diese Bezeichnung gefiel ihm am besten. Was die Farbe betraf, so zeigte die Natur die ganze Palette ihrer Möglichkeiten, die von dunklem Rot über Violett und Gelb bis hin zu reinem Weiß reichten.

      Orchideen waren nicht nur empfindlich, sondern es war in Europa auch bisher selten gelungen, sie durch Samen zu kultivieren. Wie viel Pflege war nötig, wie viel Aufmerksamkeit – das Wasser musste handwarm und gereinigt sein, am besten destilliert, Salze auf einer Apothekerwaage abgewogen werden, bevor sie zugesetzt wurden, auch die Luftfeuchte galt es möglichst konstant zu halten. Darwin benutzte zur Luftbefeuchtung einen Gummiball aus der Hausapotheke, mit dem in der Familie normalerweise Einläufe verabreicht wurden. Er besprühte die Pflanzen und schaute zu, wie sich die Tröpfchen auf den Blättern verteilten und kleine Inseln bildeten, in denen sich das Licht brach. Manchmal schwebte über ihnen für ein paar Sekunden ein künstlicher Regenbogen. Darwin mochte diese bizarre Welt seines Möchtegerndschungels, die Minuten der absoluten Kontrolle, die doch eine Illusion war, denn ein Insekt, zufällig hereingekommen, durchschnitt die Luft im Zickzackflug und landete unrettbar im glatten Trichter der Venusfliegenfalle. Vorbei. Das Tier starb eines qualvollen Todes und wurde zu einer zähen Flüssigkeit aufgelöst. Die Schönheit dieser Pflanze hatte eben ihren Preis und der hieß Stickstoff.

      Darwin öffnete die Tür, genoss die frische Luft und lief zu dem Beet mit den Feuerbohnen, die unkompliziert waren, weil sie bei jedem Wetter wuchsen und schon im Frühsommer ihre strahlend roten Blüten reckten. Darwin liebte die Schnelligkeit, mit der diese schlichten Pflanzen die hohen Stangen erklommen und mit den Ranken umschlangen. Sie blühten rot, immer war der Farbton feuerfarben und intensiv. Man wusste, was kam, hier passierte nichts Neues, bei ihrem Anblick konnte er sich erholen.

      III.

      Schon das Papier des Briefumschlags, den ihm der Postbote auf dem sauber geharkten Weg vor dem Haus übergab, zeigte durch seine fremdartige gelbe Farbe und die grobe, ungewöhnliche Struktur die exotische Herkunft an, ebenso die bunten Briefmarken und zahlreichen Schmutzflecken, die scharf nach Schwefel rochen. Darwin hielt den verschlossenen Umschlag für einen Moment unter die Nase. Seine Erinnerung täuschte ihn nicht – es war der unvergessliche Geruch von Vulkanen, jene abenteuerliche Mischung aus Verbranntem, Schimmelkäse, frischen Erdbeeren, Kloake und einer Komponente, die man nie herausbekommen würde, vielleicht handelte es sich um Reste eines tödliches Gases, das aber auf dem weiten Weg durch die Poststationen verflogen war.

      Das Schreiben war tatsächlich auf Ternate, einer Vulkaninsel im Malayischen Archipel, aufgegeben worden und hatte den Schwefelatem seiner Umgebung angenommen. Der Absender hieß Alfred Russel Wallace. Darwin kannte den begabten jungen Naturforscher und wusste, dass er zurzeit allein durch Malaysia, Borneo und andere Gebiete des Archipels reiste. Eine Persönlichkeit wie Wallace vergaß man nicht: Auf den ersten Blick wirkte er elegant wie ein Dandy, aber sein gewölbter Brustkorb und die krummen Beine verrieten Mangelernährung, wie sie in den Armenvierteln der wachsenden Großstädte und auf Schiffen üblich war, seine Bewegungen wirkten in Momenten, in denen er sich nicht unter Kontrolle hatte, eckig. Sein Gesicht erinnerte an ein nicht entgratetes Metallstück aus einer der vielen Manufakturen seiner Geburtsstadt Usk, auch seine Hände schienen Metallgeruch auszuströmen. Seine Augen strahlten gierig von verschwimmender Ferne und dem Wunsch, große Entdeckungen zu machen. Darwin las die Briefe von Wallace gern, weil der es verstand, seine Reiseerlebnisse farbig und mit einem unschuldigen Hang zur Dramatik zu schildern, der die feinen Härchen auf seinem Oberarm sträuben machte.

      Darwin empfand, in seinem Garten stehend und von der Bläue des Frühsommertages eingehüllt und durch sie gestärkt, den noch ungeöffneten Brief in den Händen, freudige Erregung, etwa so, als schaue er auf den Einband eines Abenteuerromans. Seine, Darwins, Abenteuer fanden seit Jahren, Jahrzehnten gar, im Kopf statt, seine Reiselust trat nur zuweilen und als Anfall auf und zeigte ihm, dass die Begierden noch nicht erloschen waren. Das Außerordentliche, der unerwartete Reiz, das Dämonische blieben seiner Phantasie vorbehalten. Aber sobald ein bestimmtes Wort fiel, etwa »Macchiabusch« oder »Meeresleuchten« oder jemand erwähnte in der Kneipe zum »Georg, dem Drachentöter«, heiser vor Sehnsucht, den Namen eines Vulkans, vielleicht nur, weil er über dessen Ausbruch in der Zeitung gelesen hatte, begannen sich Erinnerung und Phantasie zu einem eng gewobenen Gebilde zu verknüpfen. Dann sah sich Darwin wieder in der Steppe liegen, nur die Sterne in kalter Klarheit über sich, ein Eigenbrötler, gebettet auf die Gewissheit, dass das ganze Universum ihn beherrsche, besitze und verlasse zugleich, oder, was häufiger vorgekommen war, an der Reling stehen, eingehüllt in den Mantel des Windes, das Gesicht der salzigen Gischt ausgesetzt, und unbekannte, unbewohnte Inseln ohne Namen, die nur drei Menschen vor ihm, wenn überhaupt, jemals gesehen hatten, zogen in langer Reihe vorüber. Gelegentlich genügte Darwin auch ein Wort, das jemand falsch aussprach, eine Verwechslung, eine akustische Täuschung, eine Silbe, die im Nebel hängen geblieben war wie eine dunkle Frucht, um den intensiven Geruch nach Schweiß, gebratenem Fleisch, Gewehröl und Verwesung, dominiert von Minze- und Macchiaduft, zu imaginieren.

      Und


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