Darwin. Petra Werner
Dickdunstiger roter Himmel, in dem eine riesige Sonne schlagartig untergeht und nur Dunkelheit zurücklässt. Hitze. Das Gebrüll von Affen. Der Singsang von Zikaden, dieses ewige Hintergrundgeräusch der Tropen.
Nein, in den Dschungel hatte es Darwin nie gezogen. Er liebte das Offene, die freie Fläche, die der Phantasie Raum gab. Darwin hatte sich mit Kollegen über diese seltsame Vorliebe unterhalten, mit Christian Gottfried Ehrenberg zum Beispiel, der Wüsten liebte, und Alexander von Humboldt, der beides kennengelernt hatte, tropische Fülle und die Kargheit der Ebenen Patagoniens und sich im Zweifelsfalle immer für Patagonien entschied. Diese Ebenen konnten nur durch Abwesendes beschrieben werden: ohne Wohnstätten, ohne Wasser, ohne Bäume, ohne Berge trugen sie meist zwerghafte Pflanzen, und Darwin fragte sich oft, warum ausgerechnet diese baum- und strauchlosen Ebenen einen so festen Platz in seinem Gedächtnis errungen hatten. Darwin konnte für sich selbst diese Empfindung kaum verstehen, war jedoch davon überzeugt, dass hier der Einbildung volle Freiheit gegeben war. Die Ebenen Patagoniens waren ohne Grenzen, sie waren kaum zu durchschreiten und daher unbekannt, über Jahrhunderte hatten sie so bestanden, wie er sie gesehen hatte, und es schien ihm so, als bestände keine Grenze für ihre Dauer durch künftige Zeiten. »Wenn die flache Erde, wie die Alten vermuteten, von einem unüberschreitbaren Gürtel von Wasser oder von Wüsten umgeben wäre, die bis zu einem unerträglichen Übermaß erhitzt wären, wer würde nicht auf diese Grenzen für die Kenntnisse des Menschen mit tiefen, aber schwer bestimmbaren Empfindungen hinblicken?« Hatte er das bei Humboldt gelesen?
Wallace dagegen reizten Licht und Schatten, fettes, abenteuerlich wucherndes Kraut mit giftroten Blüten, das Versteck, in dem die Überraschung lauerte, ein unerwartetes Rascheln in den Baumkronen, Scharen von Fledermäusen, die seltsame Muster in den Himmel malten, kreischend über ihm dahinflogen und auf den Palmen dicke Krusten stinkenden Kots zurückließen. Große Vögel, die mit langen Hälsen und seltsam geformten Schnäbeln gravitätisch zwischen milchweißen Seerosen hindurchschritten, Blüten, die bei leisem Wind jenen Sahnetuffen auf Torten glichen, die sich in der Hitze auflösen und am Ende an Tröpfchen von Mondspucke erinnerten. Wallace konnte fünf Minuten lang fasziniert und ohne Anflug von Angst oder gar Mitleid zuschauen, wie sich im Gebüsch eine Korallenotter einer Maus näherte, in der Weite dagegen, so hatte Wallace einst gesagt, fühle er sich ausgeliefert wie ein Wurm auf einer Mauer. Außerdem bedeute der Dschungel Fülle, Artenreichtum, Vielfalt an Farben und Formen. Wenn Darwin Wallace’ Briefe las, staunte er stets, welche seltsamen Tiere es doch auf der Welt gab, welche verdrehten Formen, Hervorhebungen einzelner Organe, Anpassungen von Farben an die Umgebung! Ihm fielen winzige, hundeartige Raubtiere mit riesigen Ohren ein, Heuschrecken, die Blütengebinden aus grünen und roten Paradies- oder Teufelsblumen glichen, und Kröten, die den Gesichtsausdruck alter, grimmiger Männer zeigten. Und erst die Käfer. Ihm fiel die Begegnung mit einem alten Bauern aus seiner Heimatstadt ein, der das erste Mal in seinem Leben im Londoner Zoo war. Dort hatte er Elefanten und Tiger gesehen und, nach Hause zurückgekommen, ausgerufen: nein Kinder, das müsstet ihr aber mal sehen, da laufen lebendige Tiere herum, die es gar nicht gibt!
Darwin öffnete genussvoll und langsam den Umschlag des soeben eingetroffenen Schreibens und nahm das blaue, sehr dünne Briefpapier in die Hand. Es war so hauchzart, dass die Sonne hindurchschien, die Schatten der Büsche zu sehen waren, und so blau, dass es die Bläue des Himmels verstärkte. Diesmal schilderte ihm Wallace seine Beobachtungen über Baumkängurus und Flugfrösche und legte sogar eine Zeichnung bei. Äußerlich wirkten diese Lebewesen, so Wallace, wie eine Fehlkonstruktion der Natur, so seltsam plump und ohne Proportion der Gliedmaßen. Die weiblichen Tiere seien etwas größer als die Männchen, auch die Aufzucht ihrer Jungen, so Wallace mit ironischem Unterton, betrieben sie merkwürdig und unlogisch. Das Junge komme zu früh zur Welt und bliebe als Frühgeburt fünf Monate lang im Beutel, aus dem es ab und zu den Kopf herausstecke. Warum nicht?, dachte Darwin. Immerhin bedeutete ein Beutel die Sicherheit einer Höhle.
Auch Flugfrösche hatte Wallace eindrucksvoll geschildert, beobachtet auf Sumatra, Borneo und in Thailand. Diese Tiere hatten sehr große, vorstehende Augen, Haftscheiben an den Fingerspitzen und Schwimmhäute zwischen den Zehen. Die Schwimmhäute benutzte der Frosch nach Beobachtung von Wallace jedoch nicht zum Schwimmen, sondern spannte sie wie kleine Fallschirme auf. Wallace selbst hatte den Frosch damit im tropischen Regenwald von Baum zu Baum schweben sehen und auch beobachtet, dass die Flugfrösche ausschließlich zur Paarung die Baumkronen verließen. Die Weibchen produzierten ein Sekret, das sie mit den Beinen zu Schaum schlugen, um daraus ein Nest zu formen.
Diese Gegenden der Welt, in denen Wallace Kängurus, Frösche, Käfer und Spinnen sammelte, würde er, Charles Robert Darwin, nie sehen. Wenn er eines im Leben verloren hatte, so war es die Fähigkeit der Jugend, sich kurz entschlossen auf eine weite, gefahrvolle Reise zu begeben, über sich nur den Himmel.
IV.
Der Schreck traf ihn wie kaltes Wasser.
- Mummy, rief Darwin mit lauter, heiserer Stimme, die mit der Schwächlichkeit seines Körpers kontrastierte, und lief eilig ins Haus, in der einen Hand den aufgerissenen Umschlag, in der anderen das Schreiben von Wallace. Seine Stimmung war von einer Sekunde zur anderen umgeschlagen.
Als Emma Darwin sah, dass ihr Mann am ganzen Körper zitterte und völlig verstört war, drückte sie ihn so zärtlich, wie es ihrer kämpferischen Natur möglich war, auf die Couch im Wohnzimmer und legte ein ammoniakgetränktes Tuch auf seine Stirn.
Die Porträts der Verwandten, in einer Reihe über dem englischen Buffet altarähnlich drapiert, blickten ernst auf das Paar herab. Sie hatten, so schien es, ihren wohlwollenden Gesichtsausdruck verloren. Emma nahm ihrem Mann wortlos den Brief von Wallace aus der Hand, aber außer Freundlichkeit, einer gewissen Selbstverliebtheit und Freude an der Beschreibung von Farbe und Form fiel ihr nichts weiter auf. Wortlos zeigte Darwin auf den letzten Abschnitt des Schreibens. Dort erklärte Wallace, dass er den Brief in einem kleinen Haus in der Nähe des Vulkankraters des Santubong auf Borneo geschrieben habe. Er sei sehr einsam, klagte der Kollege, und er habe während der langen Abende und sehr nassen Tage in der Regenzeit nichts anderes zu tun gehabt, als seine alten Papiere zu ordnen, Bücher von Alexander von Humboldt und Charles Lyell zu lesen und über Dinge nachzudenken, die ihn schon lange interessiert hatten. Das Ergebnis seiner Bemühungen, die Einsamkeit zu vertreiben, war ein Essay über Evolution, den er beilege. Er würde gern wissen, was er, Darwin, der erfahrene und geschätzte ältere Kollege, von dieser Arbeit halte. Emma Darwin verstand nicht, was daran problematisch sein sollte und sah ihren Mann noch immer fragend an.
Draußen hatte es zu regnen begonnen. Darwin hielt es nicht auf dem Sofa. Er sprang auf und lief unruhig umher.
- Es ist der schwärzeste Tag meines Lebens. Wallace hat in seinem Essay genau das formuliert, was ich geschrieben habe. Er hätte keine bessere Kurzfassung meiner eigenen Ideen geben können, wir verwenden sogar ähnliche Begriffe und Überschriften. Er schwieg und fuhr dann traurig fort:
- Wie kommt es, dass zwei Leute an unterschiedlichen Orten in der Welt zu denselben Schlussfolgerungen kommen?
Darwin nahm den Text des Konkurrenten in die Hand und las mit nervöser Ergriffenheit, die in steigende Verbitterung überging, Stichwörter aus Wallace’ Text vor. Es war ihm völlig egal, ob seine Frau nachvollziehen konnte, worum es ging.
- Arten, die durch Zucht entstanden sind, sind instabil, natürliche Arten ebenfalls, deklamierte er.
- Das Leben der wilden Tiere basiert auf einem Existenzkampf, in dem der Schwächere unterliegt. Der Schwächere kann der Jüngste, der Ältere, der Kranke sein. Nur derjenige überlebt, der sich bester Gesundheit erfreut und am lebenstüchtigsten ist, der am besten Nahrung erreichen und die Feinde abwehren kann.
Darwin bemerkte nicht, wie seine Frau blass wurde und sich sogar bekreuzigte, als er die Kranken erwähnte, die im Kampf ums Dasein unterliegen würden.
- Es gibt ein bestimmtes konstantes Verhältnis zwischen den Tieren, fuhr Darwin fort, es muss weniger Fleischfresser als Pflanzenfresser geben, es kann niemals so viele Adler und Löwen geben wie Tauben und Antilopen, die Wildpferde der tatarischen Steppen können nicht die ähnliche Anzahl der Pferde erreichen wie die nahrungsreichen