Der Kopf von Ijsselmonde. Jacob Vis

Der Kopf von Ijsselmonde - Jacob Vis


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Mirjam.

      »Antillische Sitte. Ein Mann redet, die anderen halten den Mund.«

      »Bakker und Spruit fanden sie unheimlich.«

      »Bakker und Spruit sind Esel in Uniform«, sagte van Arkel. Er ging zu dem Förster hinüber, der an sein Auto gelehnt auf ihn wartete, und reichte ihm die Hand. »Wir benötigen Ihre Hilfe, Meneer van Dijk. Könnten Sie sich heute und morgen zu unserer Verfügung halten?«

      »Ich kann mir meine Zeit einteilen, wie ich will«, antwortete van Dijk.

      »Sie haben einen Traumberuf«, sagte van Arkel. »Wissen Sie, vor welchem Problem wir stehen?«

      Van Dijk nickte. »Sie haben einen Kopf ohne Körper.«

      »Stimmt. Und ich habe zwei Fragen.«

      »Wer hat es getan und wo ist die Leiche.«

      »Genau.«

      »Frage eins ist Ihr Problem. Bei Nummer zwei kann ich helfen.« Van Dijk warf einen Blick auf die Karte. »Welchen Teil des Waldes haben Sie bereits abgesucht?«

      Der Hundeführer zeigte es ihm. »Dieses Stück. Wie groß ist der Wald?«

      »Vierhundertvierundachtzig Hektar.«

      »Dann haben wir die nächsten zwei Tage noch eine Menge zu tun.«

      »Könnt ihr nicht den Samstag durcharbeiten?«, fragte van Arkel.

      »Können wir schon«, antwortete de Boer. »Aber ich frage mich, ob das nötig ist. Wenn wir ihn mithilfe von jemandem, der sich im Wald auskennt, nicht innerhalb von zwei Tagen finden, können Sie davon ausgehen, dass er hier nicht liegt.«

      »Was machen wir in der Zwischenzeit?«, fragte Mirjam.

      »Wir beschäftigen uns mit Frage Nummer eins«, antwortete van Arkel. Irgendeine innere Stimme sagte ihm, dass die Suche im Wald sinnlos war. Der Körper lag woanders. Es war ein völlig irrationales Gefühl, die Intuition, die er schon verloren geglaubt hatte und die plötzlich zurückgekehrt war, als Ronnies Kopf auf seinem Schreibtisch lag. Ich muss mit ihm reden, dachte er.

      »Komm, wir fahren zurück«, schlug er vor. »Ich möchte mit Ronnie reden.«

      Mirjam warf ihm einen erstaunten Blick zu. Sie wollte etwas sagen, schluckte es aber hinunter und ging zum Auto. Ein Mordfall, in dem der Fahnder übernatürliche Methoden anwandte, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Hochinteressant. Und nutzlos. Wenn es etwas brachte, wäre es nicht zu beweisen. Um nicht zu sagen lächerlich.

      Ein Jahr nach Andreas Entlassung aus dem Krankenhaus hörte eine Nachbarin spät am Abend in dem Haus, in dem Andrea, ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Klaasje und ihr Onkel Bertus wohnten, jemanden schreien. Der Schrei drang gedämpft durch die dicken Mauern des alten Hauses. Er ähnelte dem Kreischen eines Tieres in Todesangst, aber es war eine menschliche Stimme, die Stimme eines Kindes.

      Das Geräusch brach plötzlich ab. Die Nachbarin weckte ihren Mann. Zusammen horchten sie eine Weile, doch auf der anderen Seite der Wand blieb es still.

      Am nächsten Morgen beobachtete die Nachbarin die beiden Kinder, die wie gewöhnlich um acht Uhr zur Schule gingen, besonders aufmerksam. Auf den ersten Blick schien alles normal, doch wer genau hinschaute, sah, dass Andrea ein wenig merkwürdig ging. Die Nachbarin dachte an ein Ereignis aus ihrer eigenen Jugend in Zwartsluis zurück. Ein vierzehnjähriges Mädchen hatte ein Kind von ihrem Vater bekommen. Sie war anfangs genau so gelaufen wie Andrea, aber niemandem fiel auf, dass etwas nicht stimmte, bis die Familie Hals über Kopf wegzog.

      Die Nachbarin blickte den Kindern nach, bis sie um die Ecke bogen. Sie zog ihren Mantel über und machte sich auf den Weg zum Polizeipräsidium.

      4

      Ronnies Kopf stand in der Pathologie auf dem Seziertisch des Rechtsmediziners. Der Schädel war auf der Rückseite mit groben Stichen zusammengenäht worden. Unten am Hals hing ein kleiner Faden. Der Assistent schnitt ihn ab. Van Arkel blickte den Pathologen an. Doktor Jansen war groß und mager und hatte eine auffallend spitze Nase. Seine Finger waren braun verfärbt vom Nikotin.

      »Was haben Sie herausgefunden?«, fragte van Arkel.

      Jansen zeigte auf die Bisswunde in Ronnies Wange. »Sie dachten, das wäre ein Fuchs gewesen, nicht wahr?«

      »Stimmt.«

      Jansen warf ihm einen eigenartigen Blick zu. »Der Biss stammt von einem Menschen.«

      Van Arkel schaute sich entgeistert die Wunde an. »Aber wie kann jemand ein Stück aus einer Wange herausbeißen?«

      »Wenn man seine Zähne gut pflegt«, meinte der Assistent.

      »Ich meine natürlich: Warum würde jemand so etwas tun?«, sagte van Arkel.

      »Diese Frage müssen Sie klären«, sagte Jansen. »Aber wir haben etwas gefunden, was Ihnen vielleicht weiterhilft.« Er blätterte in seinen Aufzeichnungen. »Im Gehirn befinden sich Spuren von Muskarin und Ibotensäure. Die Konzentrationen, die wir festgestellt haben, weisen auf den regelmäßigen Konsum von Amanita muscaria hin.«

      »Narrenschwamm«, sagte der Assistent.

      Jansen schaute ihn böse an und ergänzte: »Der gewöhnliche Fliegenpilz.«

      »Wollen Sie damit sagen, dass er Fliegenpilze gegessen hat? Die sind doch giftig!«

      »Nicht wenn man sie in Maßen konsumiert. Amanita wird seit Jahrhunderten als Droge gebraucht.«

      »Und was hat die Tatsache, dass er Fliegenpilze gegessen hat, mit der Wunde zu tun?«

      »Ein Effekt soll darin bestehen, dass man vorübergehend außergewöhnliche Kräfte entwickelt. Obwohl Wissenschaftler dies bezweifeln. Man hat es nie nachgeprüft, aber wenn man das da sieht, könnte es vielleicht tatsächlich stimmen.«

      »Stark genug, um jemandem ein Stück aus der Wange herauszubeißen?«, fragte van Arkel.

      »Oder einen Menschen mit einem Schlag zu enthaupten«, sagte der Assistent. »Eine so glatte Schnittwunde sieht man nicht alle Tage. Meistens sind sie an den Rändern ausgefranst. Soll ich ihn noch ein bisschen herrichten, bevor wir ihn freigeben?«

      Jansen nickte. »Tu das. Kommen Sie kurz mit mir, Inspecteur. Ich habe ein wenig Literatur über den Gebrauch von Amanita als Droge. Vielleicht können Sie etwas damit anfangen.«

      Eine Stunde später liefen Mirjam und van Arkel durch die Nieuwstraat. Die meisten Häuser waren niedrig, hatten schmale Türen und kleine quadratische Fenster. Die Antillianer hatten ihre Fenster mit fröhlich bunten Blumenkästen geschmückt, eine erfrischende Abwechslung zu den holländischen Häuschen. Ronnies Familie wohnte in Nummer sechzehn. In die Haustür war eine Katzenklappe eingebaut. Mirjam klingelte und eine hübsche junge Frau öffnete die Tür.

      »Polizei«, sagte van Arkel. »Dürfen wir hereinkommen?«

      Die junge Frau ließ sie ein. Oben spielte jemand Gitarre. Auf der Treppe saß eine graue Katze, die durch die Klappe nach draußen schlüpfte. Theresa van Splunter erschien in der Tür. Van Arkel reichte ihr die Hand und stellte Mirjam vor. Theresa deutete auf die junge Frau.

      »Meine Tochter Carmen.«

      Am Fenster saß eine alte Frau in einem Korbsessel. Carmen flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die alte Frau stand auf. Carmen brachte sie an die Treppe und rief etwas hinauf, woraufhin das Gitarrenspiel verstummte.

      »Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Theresa. Mirjam und van Arkel setzten sich nebeneinander auf das schmale Sofa. Van Arkel fragte sich, wie vier Personen in einem so kleinen Haus wohnen konnten. Theresa erwartete gelassen seine Fragen. Die Kinder ähnelten einander: dieselben regelmäßigen Züge und dieselben braunen mandelförmigen Augen. Carmen erinnerte van Arkel an seine Frau, obwohl Rita blond und vom nordischen Typus war. Königinnen. Sie brauchten nur mit den Fingern zu schnippen. Kein Wunder, dass Haydar der Versuchung erlegen war.

      »Wir möchten


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