Der Kopf von Ijsselmonde. Jacob Vis

Der Kopf von Ijsselmonde - Jacob Vis


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war oft weg.«

      »Wo?«

      »In Amsterdam.«

      »Wo war er letztes Wochenende?«

      »Wieder in Amsterdam.«

      »Und in Zandvoort«, fügte Carmen hinzu. »Wenn er in Amsterdam war, fuhr er auch immer zur Rennstrecke. Nur zum Zuschauen. Er hat auch manchmal in den Boxen ausgeholfen.«

      »Hatte er Geld?«, fragte Mirjam.

      »Nein«, antwortete Theresa. »Und wenn er Geld hatte, gab er es aus.«

      »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte van Arkel. »Aber wie leben Sie hier eigentlich so als Familie?«

      »Wahnsinnig gemütlich«, sagte Theresa trocken.

      Van Arkel lächelte. »Ich meine, wie geht es Ihnen finanziell?«

      »Meine Mutter und ich, wir beziehen beide eine Witwenrente. Carmen arbeitet für eine Zeitarbeitsfirma und Ronnie erhielt Sozialhilfe.«

      »Dann haben Sie zusammen ein gutes Auskommen.«

      »Carmen hat mittlerweile eine eigene Wohnung. Wir kommen zurecht.«

      Sie redet, als sei gar nichts geschehen, dachte van Arkel. Heute Nacht hatte sie Trauer gezeigt, auf eine beeindruckende Weise. Jetzt schien es, als habe sie ihren Kummer überwunden. Carmen wirkte ebenso beherrscht. Als sprächen sie über eine Person, zu der sie nicht mehr als oberflächlichen Kontakt gehabt hatten.

      »Wer könnte es getan haben?«

      »Keine Ahnung«, sagte Theresa.

      »Sie auch nicht?«

      »Nein«, antwortete Carmen.

      »Aber Sie haben darüber nachgedacht?«

      »Ich habe über nichts anderes nachgedacht«, sagte Theresa tonlos.

      »Hat Ihr Sohn Drogen genommen?«

      »Nicht dass ich wüsste.«

      »Wir haben Hinweise darauf, dass er Drogen in ungewöhnlicher Form konsumierte.«

      Theresa blickte ihn schweigend an.

      »Fliegenpilze«, erklärte van Arkel.

      »Lächerlich!«, erwiderte Theresa. Carmen sagte nichts und schaute van Arkel mit grimmiger Miene an. Gut, dass er die Fragen stellt, dachte Mirjam.

      »Da ist noch etwas. Die Bisswunde in seiner Wange stammt von einem Menschen.«

      »Nein!« Theresa riss entsetzt die Augen auf. Carmen griff nach ihrer Hand. »Bitte gehen Sie jetzt«, sagte Theresa.

      »Tun Sie, worum Mutter Sie bittet«, sagte Carmen. »Vielleicht können Sie später wiederkommen.« Theresa starrte ins Leere. Carmen wies mit einer Geste zur Tür.

      »Ihnen ist doch klar, dass wir alle dasselbe wollen?«, fragte van Arkel.

      »Ja«, sagte Carmen. »Ich bringe Sie zur Tür.«

      »Das war nicht gerade berühmt«, bemerkte Mirjam, als sie kurz darauf wieder die Straße entlanggingen.

      »Stimmt«, gab van Arkel zu.

      Auf einem kleinen Platz spielten ein paar dunkelhäutige Jungen Fußball. Einer von ihnen hielt mit der Routine eines Elfjährigen, der weiß, dass er die Aufmerksamkeit des Publikums fesselt, den Ball hoch in der Luft. Die anderen schauten bewundernd zu, als er ihn danach vom Kopf auf das Knie und von da auf den Innenfußknöchel jonglierte.

      Romario ließ den Ball fallen. Van Arkel nahm ihn mit dem Fuß auf, balancierte ihn einige Sekunden auf dem Fußgelenk und trat ihn mit voller Wucht hoch in die Luft. Die Jungen schauten dem Ball nach, wie er für einen Moment über den Häusern schwebte. Van Arkel fing ihn mit dem anderen Fuß auf und kickte ihn hinüber zu dem wartenden Grüppchen. Der junge Ballkünstler lachte und rief: »Okay, Mann!«

      »Ich dachte, du würdest Judo trainieren«, sagte Mirjam.

      »Stimmt auch. Vom Fußballspielen verstehe ich nichts, ich kann nur den Ball geradeaus hochschießen.«

      »So spielt mein Vater Klavier«, sagte Mirjam. »Er kann nur die ersten Takte der Dritten von Beethoven, aber die spielt er perfekt. Wenn er ein Klavier entdeckt, klimpert er seine Melodie, und alle denken, er wäre ein richtiger Künstler.«

      Van Arkel lachte. »Was treibt er sonst noch so?«

      »Er übt jetzt die Fünfte.«

      »Hat er die Vierte übersprungen?«

      »Die ist zu schwierig. Die kann man nur spielen, wenn man den perfekten Anschlag hat.«

      »Was für ein Mann.«

      Sie gingen hintereinander her durch eine nur meterbreite Gasse. Sie mündete in der Einkaufsstraße, die durch den alten Teil der Stadt verlief. Van Arkel zeigte auf das Durchfahrt verboten-Schild am Eingang der Gasse und bemerkte: »Das müssen wir mal abmontieren.«

      »Ja, Chef.«

      Das Glockenspiel bimmelte eine Melodie. »Halb eins«, sagte er. »Kommst du mit zum Essen?«

      »Nein«, sagte Mirjam. »Ich habe keinen Hunger. Ich gehe ein Stück spazieren.«

      Van Arkel schaute sie an. »Geht es dir gut?«

      Mirjam lachte. »Prima. Fasten schärft den Geist. Guten Appetit.«

      Van Arkel bog in die Voorstraat ein. Mit Wohlgefallen betrachtete er sein Haus, die Hälfte einer Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert. In der anderen Hälfte wohnte ein pensionierter Kapitän. Von der Vorderseite aus blickte man über die Ijssel, die Rückseite lag an der Voorstraat: eine nüchterne weiße Fassade mit hohen Fenstern. Einige Steinstufen führten hinauf zu einer grünen Tür. Neben der Treppe befanden sich die Fenster von Ritas Atelier im Souterrain.

      Rita arbeitete an dem Tonmodell eines Jungenkopfes. Van Arkel blieb an der offenen Tür stehen und schaute seine Frau an. Sie hob den Blick und lächelte.

      »Hallo, Ben.«

      »Hallo, Rita.«

      Rita blies sich eine Locke aus dem Gesicht. »Steck mir mal meine Haare fest«, bat sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Van Arkel befestigte die lose Strähne mit einer Klammer. Er liebte es, ihr beim Arbeiten zuzusehen, ein Privileg, das sie nur ihm und ihrem Sohn Ben zugestand.

      »Wo ist Ben?«, fragte er.

      »Oben.«

      Sie widmete sich ihrer Arbeit wieder in jener konzentrierten Haltung, die eine Fortsetzung des Gesprächs nutzlos machte. Van Arkel ging nach oben und begrüßte seinen Sohn. Ben war ein ruhiges Kind. Zu ruhig, fand van Arkel manchmal, wenn er an seine eigene Jugend dachte.

      »Was hast du heute Morgen so gemacht?«, fragte er.

      »Nichts«, murmelte Ben.

      »Bisschen wenig«, meinte van Arkel. Er kam sich wie ein Idiot vor. Er beneidete Rita darum, wie mühelos sie mit dem Jungen umging. Als das Kind geboren wurde, hatte er allerlei romantische Vorstellungen gehegt. Er würde mit ihm angeln gehen, sie würden zusammen zelten und Sport treiben. Daraus war wenig geworden, aber Vater und Sohn waren Freunde. Vor einem Jahr war die Vertrautheit plötzlich gewichen, und van Arkel beschlich zunehmend das Gefühl, für seinen Sohn ein Fremder zu sein. Rita meinte, er solle sich keine Sorgen machen, doch van Arkel erinnerte sich an seine eigene Kindheit und sah ein, dass er die Welt seines Sohnes ebenso wenig verstehen würde, wie sein Vater die seine verstanden hatte.

      Vor dem Haus wurde gehupt. Ben sprang auf. Van Arkel schaute ihm nach, wie er durch den Vorgarten rannte. Bevor er einstieg, schaute er hoch und winkte. Van Arkel winkte zurück.

      Rita trug das Tonmodell von Bens Kopf auf einem Brett herein und stellte es auf die Fensterbank. »Hast du schon Kaffee aufgesetzt?«, fragte sie.

      »Nein.«

      »Hast


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