Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier
wie es einige Barthianer forderten, sondern Bultmann formuliert sachlich, präzise und ein wenig polemisch: »Wie soll er denn vernehmen, ohne zu verstehen? Und das Problem der Interpretation ist doch gerade das des Verstehens.«10 Das Woraufhin der Schriftauslegung ist die Frage »nach dem in der Schrift zum Ausdruck kommenden Verständnis der menschlichen Existenz«11 oder, systematisch formuliert, als Auslegung des Offenbarungsbegriffs: Das »Woraufhin der Interpretation als die Frage nach Gott, […] bedeutet […] die Frage nach der Wahrheit der menschlichen Existenz.«12 Dieses Vorverständnis wird gegen kirchliche Dogmatiker ebenso verteidigt wie gegen alle, die das Neue Testament bloß als »Quelle« für eine historische, psychologische oder religiöse Fragestellung gebrauchen.
In dieser enormen Spannung – die Schrift wird selbst zum Reden gebracht, indem sie nach Wahrheit und Existenz befragt wird – liegt eine intellektuelle und theologische Dynamik, die Bultmanns Hermeneutik, zumindest in den 1950er bis 1970er Jahren, so wirkungskräftig und in allem Streit13 erfolgreich werden ließ.
Die unlösbare Verbindung von kritischer Exegese und theologischem Programm ließ auch den Weg vom Text zur Predigt als eher direkte Verbindung erscheinen. Einige mythologische Relikte waren natürlich auf diesem Weg zu beseitigen, das aber nur, damit die wahre Anstößigkeit nicht bei einem sacrificium intellectus stehen bleibt, sondern in der Kreuzestheologie erkannt wird, im paulinischen oder johanneischen Kerygma.
In dieser theologischen Geschlossenheit liegt eine wesentliche Stärke der Bultmannschen Hermeneutik. Gleichzeitig ist sie auch philosophisch anschlussfähig, nicht in einem bloß formalen Sinn, sondern in der entscheidenden, auch bei Heidegger und Gadamer auf je eigene Weise ausgearbeiteten Grundüberzeugung: Indem der Mensch etwas versteht, versteht er immer zugleich auch sich selbst.14
Was ist die bleibende Stärke der existentialen Hermeneutik? Die existentiale Hermeneutik ringt um die Frage nach Gott, die sie als Sache der biblischen Texte begreift und die angemessen nur als Frage nach Wahrheit und nach Existenz zu stellen ist. Die Wahrheitsfrage ist also eine Geltungsfrage und gegenüber den biblischen Texten gibt es niemals Neutralität, »sondern nur eine Verweigerung oder aber Öffnung gegenüber dem von ihnen erhobenen Anspruch«.15 Daher sind Text- und Selbstverstehen stets aufs Engste miteinander verbunden.
2. Die Texthermeneutik: Interpretation als kritische Dimension
Die neueste Texthermeneutik, in einem anregenden Lehrbuch von Oda Wischmeyer 2004 dargestellt und in dem soeben erschienenen »Lexikon der Bibelhermeneutik« interdisziplinär differenziert,16 kritisiert die bisherigen biblischen und neutestamentlichen Hermeneutiken von Rudolf Bultmann bis Klaus Berger, von Peter Stuhlmacher, Hans Weder und Manfred Oeming; vor allem kritisiert sie deren Verbindung zu den umfassenden Verstehensfragen, also ihre ontologischen Relikte. Demgegenüber sollte die Hermeneutik wieder stärker mit dem exegetischen Alltagsgeschäft der Textauslegung verbunden werden und die Einsichten der verschiedenen Textwissenschaften aufnehmen.17 Nach der enormen Expansion von Begriff, Verständnis und Zuständigkeit der Hermeneutik im Laufe des 20. Jahrhunderts ist dieser Aufruf zu Konzentration und Begrenzung der Frage- und Problemstellung zunächst einmal sympathisch und hilfreich.
Neutestamentliche Hermeneutik wird hier vor allem definiert als »Lehre vom angemessenen Verstehen und der angemessenen Interpretation der neutestamentlichen Texte«18 und Wischmeyer votiert explizit und entschieden für eine »literaturwissenschaftlich ausgelegte Methoden- und Interpretationshermeneutik«.19
In diesem Programm ist zunächst einmal Raum für Darstellung und Berücksichtigung des exegetischen Methodenpluralismus, der sich verstärkt seit den 1970er Jahren durchgesetzt hat.20 Die klassische historisch-kritische Methode ist ja selbst, recht verstanden, nicht eine Methode, sondern ein Methodenbündel und ein Ensemble von Fragestellungen. Durch die linguistischen und neueren textwissenschaftlichen Methoden wird die bisherige Dominanz diachroner Fragestellungen durchbrochen; durch die unterschiedlichen sozialgeschichtlichen, archäologischen und kulturanthropologischen Fragerichtungen wird die Diachronie dann aber auch in sich differenziert; neue Textfunde und Editionen zeigen zudem ein ausgesprochen plurales Bild des Judentums und des frühen Christentums und ihrer Beziehungen zueinander.21
Das wird konkret in den neuen Fragen nach dem historischen Jesus und seiner Verwurzelung im Judentum, in den Fragen nach der angemessenen Darstellung paulinischer Theologie, die nicht durch augustinisch-reformatorische Lektüre vorbestimmt ist, in der Sicht auf die Bibel als Literatur und in der Qualifizierung des Kanons als einer pluralen und dynamischen Größe, die wiederum die Frage nach einer »Mitte der Schrift« zurückweist, aber wie im kirchlichen Gebrauch die Endgestalt der Texte neu wertschätzt.
Praktisch-theologisch und homiletisch bietet die Texthermeneutik dieser Ausprägung ausgesprochen vielfältige Anknüpfungen. Vor allem differenziert sie die Gattungs- und Formbestimmungen, zeigt die metaphorische Struktur vieler Gleichnisse und Jesusworte, lässt deren Pointen und Hyperbeln erkennen, analysiert die Rhetorik in den Briefen und insgesamt die literarischen Strategien in den biblischen ›stories‹.
Um ein Beispiel zu nennen: So ein leidenschaftlicher Brief wie der Galaterbrief mit seinen Appellen an gemeinsame Grundlagen und Erfahrungen, mit seinen komplexen Argumentationen und Schriftauslegungen, aber auch mit seinen sarkastischen Ausfällen und drastischen Flüchen lässt sich – nach der rhetorischen Analyse von Hans Dieter Betz22 – als Plädoyer in einer fiktiven Gerichtsverhandlung sehr konkret veranschaulichen und verstehen. Dies ist auf der Ebene der großen Form ein Beispiel für das, was Martin Nicol der Exegese in der Predigtvorbereitung als Aufspüren der Dynamik eines Textes empfiehlt23 und angemessener als die Suche nach den Gattungselementen des antiken Freundschaftsbriefes, und es ist natürlich aufregender wie anregender für die Predigtvorbereitung, als wenn man den Galaterbrief allein mit dem Thema »Rechtfertigungslehre« verbinden würde.
Andere Beispiele wären die unterschiedlichen Formen in der synoptischen Tradition und die vielfältige und reiche Sprache im Neuen Testament oder in der Bibel insgesamt. Das kann durchaus die Kreativität beim Predigtmachen in Gang setzen. Gerd Theißen, der ein Modell dieser Art in seiner Homiletik vertritt,24 legt in seinen Predigten kreative Sprach-, Metaphern-, aber auch Gattungsvariationen vor, z. B. eine Predigt über »Gott ist die Liebe«, komponiert aus der stabilen Gattung heutiger Partnerschaftsanzeigen.25
Was ist die Stärke dieses Modells? Die Texthermeneutik, auch in ihrer textwissenschaftlichen Zuspitzung als Methoden- und Interpretationshermeneutik, verkörpert das traditionelle und richtige Ideal der Aufgabe der Exegese: Sie ist zurückhaltend oder widerständig gegenüber den Forderungen totaler Dekonstruktion,26 sie ist Anwalt des Textes, sie reguliert Textinterpretation durch nachvollziehbare und überprüfbare Regeln, sie ermöglicht dadurch »Konsens ohne Zwang und Dissens ohne Feindschaft«.27 Darin wird insgesamt die kritische, auch die dogmen- und kirchenkritische, Funktion der Exegese wirksam. Die mag hin und wieder unbequem sein, ist aber in evangelischer Theologie und Kirche notwendig.
3. Engagierte Lektüreformen: Rezeption als »Interesse« und Veränderung
Während die wissenschaftliche Textauslegung identitätsoffen und applikationsfern geschieht, zielen die »engagierten Lektüreformen«28 auf Identitätsbegründung und Applikation sowie auf eine Veränderung der Praxis. Die drei Spannungen aus Gal 3,28 (Jude und Grieche, Sklave und Freier, Mann und Frau) zeigen die wichtigsten engagierten Lektüreformen, die feministische, die befreiungstheologisch-materialistische und die aus dem christlich-jüdischen Dialog erwachsene Lektüre;29 auch die psychologisch-therapeutische Auslegung ließe sich hier nennen. Gemeinsam ist ihnen die Hervorhebung der Parteilichkeit der Bibel; gleichzeitig nehmen sie im Unterschied zur fundamentalistischen Lektüre Methoden und Erkenntnisse der historisch-kritischen Exegese auf und das Recht zur Sachkritik in Anspruch.
Nun lässt sich nicht bestreiten, dass trotz mancher Extrempositionen die genannten Lektüreformen nicht nur von der Exegese und ihren Methoden Gebrauch gemacht haben,