Geisterfahrten. Theres Roth-Hunkeler
und immer häufiger klagte, es täten ihm alle Knochen weh.
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Maria, meine Schwägerin, ist nicht mitgekommen, sie hat es vorgezogen, daheimzubleiben. Auch mal schön, ein paar Tage allein zu sein, hat sie gesagt und uns gute Fahrt gewünscht. Ich bin mit Stern durch die Urschweiz und dann über den Pass gefahren, meist hat er stumm aus dem Fenster geschaut, manchmal ist er ein wenig eingenickt, auf der Passhöhe hat er gesagt: War schon ewig nicht mehr hier.
Es gab noch immer Schneewände zu besichtigen, wir sind ausgestiegen, ich habe ein paar Fotos gemacht und schließlich habe ich meinen Bruder entlang dem Lago Maggiore über Luino ins Malcantone chauffiert. Hier zeigte sich bereits ein prächtiger Sommer, warm, aber noch nicht heiß. Gestern Abend haben wir bis nach zweiundzwanzig Uhr draußen gesessen im Garten des Albergo, bevor wir in Ruths Ferienhaus, das sie mir überlassen hat, zurückkehrten. Bleib, so lange du willst, hat sie gesagt.
Stern und ich haben im Hotelgarten der Dämmerung zugeschaut, die sich wie ein leichter Mantel über die Tische, die Stühle und die zum Restaurant gehörenden Nebengebäude gelegt hat und aus ihr langsam Dunkelheit geworden ist und schließlich Nacht, in der nur noch die Augen der Menschen aufblitzten, wenn sie ins Licht der diskret angebrachten Lampen schauten. Mit der aufkommenden Dunkelheit ist es stiller geworden, stiller an den Tischen bei den wenigen Gästen, die noch da waren und allmählich verstummten, als hätten sie alle beschlossen, sich gemeinsam auf den kommenden Schlaf vorzubereiten. Unter ihnen ist mir ein Mann aufgefallen, weil er der Einzige war, der nach dem Essen in einem Buch las und ab und zu etwas in ein kleines Notizbuch schrieb. Er saß allein an einem Tisch, einmal haben sich unsere Blicke kurz getroffen, freundliche Augen, dann habe ich mich sofort wieder meinem Bruder zugewandt.
Stern und ich haben geschwiegen, auf dem Heimweg hat sich mein Bruder leicht auf mich gestützt. Eigentlich sollte er keinen Alkohol trinken, er verträgt sich nicht mit seinen Medikamenten, aber ab und zu muss man bewusst Fehler machen, um zu einem Resultat zu kommen. Bislang haben Stern und ich, selten zwar, aber immer mal wieder, alle möglichen Katastrophen besprochen, nur um die eigenen haben wir einen Bogen gemacht, was sich nun ändern soll. Gestern Abend allerdings ist dazu nicht der richtige Zeitpunkt gewesen, entweder war es zu früh oder zu spät dafür. Ich habe nicht gewusst, dass Stern üblicherweise bereits gegen einundzwanzig Uhr zu Bett geht. Als ich ihm vorgeschlagen habe, noch ein wenig vor dem Haus im Portico zu sitzen, hat er erstaunt gefragt: Um diese Uhrzeit?, hat sich dann aber schwer atmend neben mich auf die Holzbank gesetzt.
Was quält dich am meisten, habe ich gefragt. Die Mücken, hat er gesagt und wild um sich gefuchtelt, denn tatsächlich hat das Licht der Außenlampe, die automatisch angeht, wenn man sich dem Haus nähert, einen Schwarm Insekten angezogen. Und er sei müde, hat Stern gesagt und immer wieder mit dem Kopf genickt, müde sei er nun, hat er wiederholt, und weil ich nicht riskieren wollte, dass er auf der Bank einschliefe, habe ich ihn in sein Zimmer im Parterre begleitet, zu dem ein eigenes Bad gehört. Schnell habe ich noch die Läufer in seinem Zimmer und dem Bad aufgesammelt und sie in einem Abstellraum verstaut, sie wiesen keine rutschfeste Unterlage auf. Dass Stern hier stolpern oder stürzen könnte, ist meine größte Angst.
Kommst du klar, habe ich gefragt. Wieder hat er genickt, und als ich ihm bereits eine gute Nacht gewünscht hatte, hat er plötzlich gesagt: Das Zittern und mein dicker Bauch plagen mich am meisten. Man geniert sich.
Ich sitze mit Vater am Tisch. Beim Frühstück. Wir reden. Vater ist seit vielen Jahren tot. Am Tisch sitzt Stern. Wir reden nicht. Mein Bruder sieht unserem Vater zum Verwechseln ähnlich. Seine großen, abstehenden Ohren sind Vaters Ohren. Stern ist nun bereits älter, als es Vater je war. Er setzt Tag für Tag dort ein, wo unser Vater aufgehört hat, lebt eine Art doppeltes Leben. Mal mit sich selbst, hieß es im Kopfrechnen.
So geht die Zeit, sagt er nun. Dann versinkt er wieder in anhaltendem Schweigen, schaut auf etwas, das ich nicht sehen kann, und wieder verschmelzen Vater und Bruder vor meinen Augen. Die gleiche schwache Stimme, die immer wieder bricht, auch jetzt, da Stern erneut zum Reden ansetzt und wieder das Gleiche sagt: So geht die Zeit.
Sein Schweigen ist Vaters Schweigen. Tief. Hartnäckig. Schwer zu knacken. Auch wenn ich nicht zurück möchte in unser früheres schweigsames Familienleben, schaue ich gerne noch einmal in Vaters grüne, rotgeäderte Augen mit den geschwollenen Augenlidern, wenn ich Stern betrachte. Vaters Bindehaut war stets entzündet. Auch Stern und ich leiden an diesem Übel, unsere Bindehäute sind zu dünn. Sterns Haar aber ist noch immer dicht und blond, buschig seine Augenbrauen, was ungewöhnlich ist für einen Blonden, aus Nase und Ohrmuscheln sprießen borstige Haare, sie ragen heraus und niemand stutzt sie mehr. Mein Bruder ist stets schlecht rasiert, das war er schon immer, auch, als er noch viel jünger und ausnehmend gutaussehend war. Und er hätte mehrere Male in seinem Leben Grund gehabt, vor Schmerz zu sterben. Er ist nicht gestorben, musste aber phasenweise Medikamente schlucken, in heiklen Momenten, um zu überleben, verordnete Pufferzonen gegen Schmerz und Angst, oder es wurden ihm Depotspritzen verabreicht gegen Unruhe und Diazepame, die alle Ängste auflösen und ihn ruhigstellten. Einmal nahmen wir im Unterricht in der Psychologie die Ängste durch und ich habe Stern in einem Brief gefragt: Kannst du mir sagen, welcher Angst-Typ du bist?
Das Gehör ist seit Längerem das eigentliche Thema bei Stern, nicht die Augen. Sein Sehvermögen ist intakt, aber das Gehör ist der Schwachpunkt, genauso, wie es auch bei Vater war. Lange Zeit hat sich Stern aus Eitelkeit der Anschaffung von Hörgeräten verweigert. Er war schon immer eitel, und dass er die Eigenschaft behalten hat über alle Unbill seines Lebens hinweg, gefällt mir. Zum Glück ließ er sich aber von Maria überzeugen, die mit gutem Beispiel voranging und sich ihrerseits Hörhilfen anpassen ließ, obwohl es bei ihr längst nicht so dringlich gewesen war wie bei ihrem Mann. Jetzt trägt auch Stern meistens seine Verstärker, wie er die Hörgeräte nennt, verweigert sich aber jeder Form von Instruktion, und heute Morgen, stelle ich fest, hat er vergessen, sie einzusetzen.
Schade, sage ich zu ihm und deute auf meine Ohren, dann hast du in der Frühe den ganzen Betrieb in der Natur nicht gehört. Die Vögel haben gepfiffen, und ein Kuckuck hat sein Morgenlied förmlich in den Tag geschrien. Ja, ja, antwortet er, das sagt er meistens, wenn er nichts verstanden hat. Ich tippe nun auf meine Ohren und sage überdeutlich: Hol bitte deine Verstärker. Umständlich steht er auf, es dauert, bis er zurück ist, noch ist er barfuß, aber die Hörhilfen hat er sich eingesetzt.
Du hast schöne Augen, sage ich zu ihm, als er sich wieder an den Tisch setzt, aber mit deinen Füßen müssen wir etwas machen. Stern blinzelt und schweigt. Ich mache mir jeden Tag die Augen schön, erzähle ich ihm, ich bin eine Frau. Als Stern wieder nicht reagiert, schweige auch ich und überlege mir, welche Frau ihm wohl zum ersten Mal in seinem Leben schöne Augen gemacht hat. Heute machen wir deine Füße schön, sage ich, denn mit einem Blick habe ich gesehen, dass Sterns Zehennägel dringend geschnitten werden müssen und seine Füße wohl seit Jahren keinen Bimsstein oder etwas Ähnliches gesehen haben, so verhornt, wie seine Fersen sind.
Meinen Bruder behändigen. Ihn bändigen und zähmen. Obwohl, längst ist er nicht mehr wild, sondern eher handzahm, viel zahmer jedenfalls, als ich es je für möglich hielt. Die Psychiater sagen antriebslos. Der Hausarzt nennt seine periodisch wiederkehrenden schlechten Phasen Episoden. Petra, seine Tochter, bezeichnet ihn als altersdepressiv und oft schlecht gelaunt. Es stimmt, Stern ist alt. Und er ist vielleicht wieder depressiv oder, wie es Mutter genannt hat, schwermütig oder gemütskrank, das war er immer mal wieder und aus guten Gründen. Aber dazwischen war er voller Kraft, voll erfolgreicher Ideen und voll wilder Wut, wenn seine Unternehmungen mal nicht glückten. Ich nehme meinen Bruder, drehe und wende ihn und betrachte ihn von allen Seiten. Als würde er mir Modell sitzen. Ich weiß wenig über alte Männer, weiß wenig über meinen Bruder, auch wenig über seine Zeit als junger Mann, möchte aber diesem jetzt oft galligen Menschen ein wenig näherkommen, bevor er für immer verschwindet und mit ihm seine ganze Geschichte, die in Teilen auch die meine ist. Dass er als viel älterer Bruder in gewisser Weise mein Gedächtnis ist und dass ich es jetzt endlich würde anzapfen können, darauf hoffe ich, nur, ob das noch möglich ist, nun, da er schon ein wenig tattrig geworden ist, sein Körper schon etwas morsch, ich weiß es nicht.