Geisterfahrten. Theres Roth-Hunkeler
Ich betrachte seine Hände. Es sind Pranken. Gewohnt an schwere Arbeit. Aber nicht gewohnt, zum Beispiel schön hergerichtete Teller zu balancieren. Hände jedenfalls, die nicht gerne ohne Beschäftigung sind, seit einiger Zeit aber nichts mehr zu tun bekommen. So zittern sie halt. Ich aber möchte meinen Bruder ertasten. Sein Hintergrund ist dunkel. Um Stern ist es oft finster, meine Augen haben sich im Laufe der Jahre an diese Art von Finsternis gewöhnt, langsam vermag ich zwar, seine Umrisse zu sehen, aber nun möchte ich den Hintergrund ausleuchten. Stern ist dreiundachtzig Jahre alt. Ob er überhaupt noch schreiben kann, zitterhändig, wie er ist? Liest er zu Hause noch Zeitung oder schaut er nur noch fern den ganzen Tag? Noch lenkt er ein Auto, fährt aber nur noch in seiner nächsten Umgebung. Ich würde mich nicht mehr zu ihm ins Auto setzen, um keinen Preis, säße er am Steuer. In letzter Zeit habe ich zu oft an ihn gedacht, an seine Herkunft, an seine Mutter, Vaters erste Liebe. Was er noch von ihr weiß? Ob er sich an Dinge aus der Übergangszeit erinnert, bis Vater eine zweite Ehefrau und er wieder eine Mutter hatte?
Stern kennt die Schweiz wie kein Zweiter, insbesondere ihr gesamtes Autobahnnetz. Aber nicht von Ausflügen her, sondern durch seine Arbeit. Er hat die Mittelstreifen und die Böschungen der Autobahnen begrünt und bepflanzt und sie lange Zeit auch gepflegt und unterhalten, auch Skipisten im Gebirge hat er begrünt, später kamen noch Kreisel dazu. Sonst ist er nicht viel herumgekommen in der Welt. Zweimal war er mit Maria auf einer Kreuzfahrt in der Karibik. Guadeloupe vor allem hatte es ihm angetan, aber Maria musste sich zu Kreuzfahrten überwinden, sie kann nicht schwimmen, und das sei ihr während der ganzen Reisezeit stets bewusst gewesen. Überhaupt sei alles anstrengend gewesen, vor allem die Landgänge und die ganze Zeit Ausflüge und Vorträge. Beim zweiten Mal sei sie jedenfalls nur noch auf dem Schiff geblieben.
Ich sitze mit Stern am Tisch. Brüderchen und Schwesterchen. Längst sind wir fertig mit Frühstücken. Wir reden nicht. Ich nehme seine rechte Hand. Sie ist warm, wärmer als meine. Komm, sage ich. Langsam erhebt er sich. Er ist wirklich schwer geworden. Und er zittert sowohl im Sitzen als auch im Gehen. Das macht das Lithium. Wann bei ihm das Zittern eingesetzt hat, weiß ich nicht und fragen möchte ich lieber nicht. Geschrumpft ist er auch, um einige Zentimeter. Vater blieb bis zu seinem Tod hager und aufrecht und stets größer als ich.
Ich kann Stern tatsächlich dazu bewegen, mit mir zusammen vor die Tür zu treten. Draußen legt er wie so oft den Kopf in den Nacken und schaut lange Zeit hinauf, unbeweglich verharrt er in der Position und schaut und schaut, als wäre der Blauhimmel nun sein Alterswerk. Dabei hat doch das Grün über lange Zeit sein Leben dominiert. Als er sich wieder löst von diesem Anblick in der Höhe und sich langsam wieder mir zuwendet, liegt überirdische Ruhe auf seinem Gesicht. Wir setzen uns auf die Bank im Portico und betrachten den bescheidenen Garten, der zum Haus gehört.
Überall Kamille, stelle ich fest und schicke mich an, ein paar der Blüten zu pflücken, eine Pflanze reiße ich aus. Vielleicht kann man damit Tee aufbrühen, meine ich.
Ist nicht Kamille, sagt nun Stern, ist Berufskraut. Erigeron annuus.
Heißt das Zeug wirklich Berufskraut oder nimmst du mich auf den Arm? Stern schüttelt den Kopf. Die Pflanze, die aussehe wie Gänseblümchen oder eben wie Kamille, heiße tatsächlich Berufskraut, und sie sei ein Neophyt.
Stern weiß noch immer vieles über Pflanzen, insbesondere über Pionierpflanzen, die an Böschungen oder auf großer Höhe gedeihen. Ich habe einen Bruder, der noch nie auch nur ein einziges Wort auf einem Computer geschrieben hat, sich aber bestens auskennt mit Pflanzen und vermutlich kaum mehr seine Unterschrift auf ein Blatt Papier setzen kann. Stern ist analog. Stern ist monolog. Und ein Solitär ist er, obwohl er Familie hat. Zusammen mit diesem Bruder bin ich nun in Ruths Ferienhaus im Süden der Schweiz. In einem Gebiet, wo es kaum Touristen gibt, machen er und ich zum ersten Mal im Leben gemeinsam eine Art Urlaub.
Woher denn wurde dieses Berufskraut eingeschleppt?, wende ich mich wieder an ihn.
Aus Nordamerika, habe ich doch schon gesagt.
Nein, hast du nicht.
Dann halt nicht. Hab es bloß gedacht.
Denken und sprechen, vermute ich, gehen meinem Bruder in letzter Zeit häufig durcheinander, aber es ist ihm wohl egal. Er schweigt wieder und zerrupft ein paar Blüten jener Pflanze, die ich ausgerissen habe, was Kraft gebraucht hat, das Unkraut wurzelt erstaunlich tief. Ich möchte zu Stern vordringen, möchte in seine Wirklichkeit gelangen. Das ist schwer. Das Wenige, das ich von ihm weiß, stammt nicht direkt aus seinem Mund, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir beide jemals länger als ein paar Stunden nur zu zweit waren. Jetzt ist es so und fast bedauere ich diese Unternehmung schon, mal ängstigt sie mich ein wenig, mal kommt sie mir sinnlos vor, denn er und ich haben uns verpasst, und ob wir etwas nachholen können, ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, wir sind gar nicht miteinander verwandt. Bestimmt habe ich es auf Platz zwei leichter gehabt als er, jedenfalls konnte ich mich früh freistrampeln. Nur, was können wir voneinander wissen? Was für ein Kind Stern war, keine Ahnung, und umgekehrt ist es wohl ebenso. Stern war in der Unteroffiziersschule, als ich die ersten Schrittchen machte. Allerdings haben wir uns auch später nicht sonderlich darum bemüht, uns gegenseitig ein wenig Einlass in unsere Leben zu geben, und genau dieser Eindruck verstärkt sich nun, als er wieder zum Reden ansetzt, und wieder verebbt auch dieser Ansatz nach der zweiten Bemerkung, die ungefähr lautet wie: Weißt du noch, der Alois … der Alois also … bin gar nicht mehr sicher, ob der Alois … ob er noch lebt … gar nicht mehr sicher bin ich … so ist das … gar nicht mehr sicher … und dann spricht er nicht mehr weiter, sondern starrt vor sich hin. Adrin, mein Sohn, würde sagen, lass den alten Stern doch einfach in Ruhe. Merkst du denn nicht, dass er nicht reden will? Adrin hat keine Ahnung. Oder vielleicht doch. Bei uns ist ja alles nach hinten verschoben. Für Adrin ist Stern so etwas wie ein Großvater, Petra, Sterns Tochter, seine einzige Kusine, ist für ihn wohl eher wie eine Tante, sie ist einundzwanzig Jahre älter als er. Richtige Tanten hat er keine und seine wirklichen Großväter hat er nie gekannt. Mein Vater war schon vor seiner Geburt gestorben und den andern Großvater hat Adrin nie kennengelernt, wie sollte er auch, kennt er doch nicht einmal seinen Vater. Adrins Vater ist eine Adresse in Stavanger. Mein Sohn kennt die Adresse, nur weiß weder er noch ich, ob sie noch gültig ist. Menschen ziehen um, ändern ihr Leben und wohnen fortan auf einem anderen Kontinent. Menschen erkranken, altern, verstummen oder verlieren den Verstand. Ich weiß nicht, wie der Stand der Dinge ist bei Loen, aber ein alter Mann ist er nun, das steht fest, sechzehn Jahre älter als ich. Er war zweiundfünfzig, als wir uns kennenlernten, er wähnte sich in seinen besten Jahren und benahm sich auch so, mit vierundfünfzig ist er absolut ungewollt und zum ersten Mal Vater geworden, er hat Adrin, seinen Sohn, nie gesehen, er wollte das dezidiert nicht und so habe ich den Kontakt zu ihm endgültig abgebrochen, als Adrin ein paar Monate alt war. Ein paar Fotos von Loen habe ich aufgehoben, und die beiden Dokumente, für Adrin, die Bilder hat er schon ein paarmal gesehen, hat sich aber bislang noch nie aufgemacht auf Vatersuche, obwohl er viel reist, in Skandinavien allerdings war er noch kein einziges Mal. Ob er Loen gegoogelt hat, weiß ich nicht, ich denke, dass ja, ich habe es auch getan, aber diese Suche ergibt sozusagen nichts, jedenfalls nichts, das Adrin nicht bereits weiß. Am Tag seiner Volljährigkeit habe ich ihm auch die Dokumente gezeigt. Im ersten Dokument anerkennt Loen die Vaterschaft, das zweite Dokument bestätigt die einmalige Abfindung, die er mir überwiesen hat nach Adrins Geburt, ein sehr hoher Betrag, der es mir ermöglichte, mein Leben als Alleinerziehende nach meinen Vorstellungen zu gestalten, Adrin ein paar Wünsche außer der Reihe zu erfüllen und ihm bei seiner Ausbildung, die wohl längst noch nicht zu Ende ist, freie Hand zu lassen. Er ist mit neunzehn ausgezogen, hat Sozialpädagogik studiert und dann für kurze Zeit als Streetworker gearbeitet. Jetzt ist er fünfundzwanzig und jobbt ein wenig als Bühnenarbeiter bei freien Theatergruppen und hat eine Freundin, Milva, über die ich mir so meine Gedanken mache. Sie eckt dauernd und bewusst überall an, und die Provokation gefällt ihr. Bereits bei unserem allerersten Treffen hat es eine Diskussion, nein, eigentlich eine Auseinandersetzung gegeben zwischen ihr und mir, und natürlich haben wir Adrin damit in die Zwickmühle gebracht. Er hat sich kurzerhand aus dem Spiel genommen und ist für eine Weile weggegangen, worauf mich Milva voller Zorn und aus funkelnden Augen anstarrte und hervorgestoßen hat: Siehst du, das hast du nun davon. Dann ist sie für längere Zeit im Badezimmer