Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Gerechtigkeit?
ANHANG ADAS RÖMISCHE REICH UND DIE CHRISTEN
ANHANG BTREUBRUCH MIT ERFOLG: GUILLAUME DU VAIR
Vorwort
Vor einer Missdeutung des Titels des vorliegenden Buches braucht der deutsche Leser kaum gewarnt zu werden. Im Gegensatz zum englischen oder französischen justice hat das Wort »Justiz« die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen iustitia weitgehend eingebüßt; es bezeichnet nicht in einem höheren Sinne Gerechtigkeit, sondern faktisch nur noch das, was das organisierte Gebilde Staat auf dem Gebiet der Gerechtigkeit und des Rechts (oder der Rechte) tut, eine ganz konkrete »Rechtspflege«, deren Inhalt durch das bestimmt wird, was das jeweilige Staatsgebilde darstellt. Es geht dem Wortsinn nach weniger um Gerechtigkeit als um administration of justice, um die Anwendung bestimmter geronnener Rechtsvorstellungen, um die Verwaltung gegebener Rechtsverhältnisse; so kann »Justiz« mitunter sehr nahe an das lateinische iustitium herankommen, das einen Stillstand in der Abwicklung rechtlicher Dinge andeutet und zur Außerkraftsetzung aller Gerechtigkeit ausarten kann.
An den deutschen Leser tritt infolgedessen gar nicht erst die Versuchung heran, »politische Justiz« mit politischer Gerechtigkeit, also mit der Suche nach einer idealen Ordnung menschlichen Zusammenlebens gleichzusetzen, in deren Rahmen sich alle Angehörigen des Gemeinwesens in ständiger gemeinschaftlicher Anstrengung um die größtmögliche Vervollkommnung ihrer politischen Lebensform bemühen. Dass der Begriff »politische Justiz« auf den dubiosesten Abschnitt der »Rechtspflege« angewandt wird, in dem die Vorkehrungen und Einrichtungen des staatlich betreuten Rechts dazu benutzt werden, bestehende Machtpositionen zu festigen oder neue zu schaffen, entspricht dem traditionellen Sprachgebrauch und hat nichts Zynisches an sich. Das griechische Ideal tritt in dieser Ebene nur noch schärfer profiliert hervor, weil Justiz in politischen Dingen so viel schwindsüchtiger ist als in allen anderen Bezirken der Rechtsprechung, weil sie hier so leicht zur Farce werden kann.
Wenn sich die Politik der Vorrichtungen der Justiz bedient, geht sie gewisse Verpflichtungen ein, auch wenn sie nicht klar abgrenzt, ja vielleicht von vornherein nicht zu erfüllen gedenkt. Die ihrem Wesen nach zufällige und widerspruchsvolle Verbindung von Politik und Justiz birgt beides in sich: Verheißung und Verhängnis.
Das vorliegende Buch will das vielschichtige Problem der politischen Justiz darstellen und erhellen. Es ist weder eine Geschichte der politischen Justiz noch eine erschöpfende Sammlung ihrer besonders erwähnenswerten »Fälle« und Episoden; hier wird nicht das Panorama der wichtigsten politischen Auseinandersetzungen, die über die Bühne der Gerichte gegangen sind, nachgezeichnet, sondern der Versuch unternommen, den politischen Inhalt von Machtkämpfen zu der Rechtsform in Beziehung zu setzen, in der sich »Fälle« präsentieren. Zum Beispiel habe ich darauf verzichtet, den Fall Dreyfus zu erörtern, der immer noch als die cause célèbre der politischen Justiz in der neueren Zeit gilt. Im Grunde war Dreyfus ein karrierebeflissener Militärbürokrat, dem jegliches Verständnis für die Konflikte und Widersprüche seiner Zeit abging; in den Irrgarten der politischen Justiz war er unschuldig, ohne eigenes Zutun hineingeraten: ein bloßer Statist in dem historischen Schauspiel, in dem sich sein Schicksal entscheiden sollte.
Er hatte keinen Anteil an dem großen Drama aller Zeiten, auch unserer Zeit, in dem es darum geht, inwieweit die bestehenden Gewalten die Unterwerfung, den Gehorsam derer verlangen dürfen, die ihren moralischen Anspruch und ihre Zukunftsperspektive nicht anerkennen. In diesem Drama sind die Mitwirkenden bisweilen mutig und heldenhaft, bisweilen ängstlich und verwirrt, nie aber unschuldig,1 mögen sie sich als Politiker oder Meinungsbeeinflusser geben, als Beamte oder Richter, als Anwälte, Verschwörer oder Revolutionäre. Der Moskauer Hauptankläger Vyšinskij und der große Angeklagte Bucharin, der New Yorker Richter Medina und seine kommunistischen Widersacher, die französischen Militärgerichte und die FLN-Kämpfer auf der Anklagebank mitsamt ihren Bewunderern in der französischen Öffentlichkeit, sie alle kannten den wahren Inhalt der Anklage und den wahren Inhalt der gegen sie gerichteten Argumente; sie wussten, dass beides nur politische Systeme symbolisierte, Systeme von gestern, heute oder morgen, und dass sie alle, Ankläger und Angeklagte, je ein bestimmtes System verkörperten und vertraten.
Je nach Augenblicksbedürfnissen können Anklagebehörde und Verteidigung das, was die Anklagepunkte und die Anklagewiderlegung mit ihrem wirklichen politischen Sinngehalt verbindet, energisch in den Vordergrund rücken oder nach Kräften verschleiern. Je nach der Situation können die Angeklagten von der Unausweichlichkeit ihres kommenden Sieges überzeugt sein, sich in Positur setzen, um der Nachwelt das erwünschte heroische Bild zu übermitteln, oder verzweifelt daran arbeiten, jede Erinnerung an das, was sie einst getan oder gedacht hatten, auszulöschen. Wer das Material kritisch sichten will, kann nur die Referenzen und Leistungen aller Beteiligten unter die Lupe nehmen, ihre Methoden und Voraussetzungen prüfen, ihre Ansprüche und Gegenansprüche miteinander vergleichen.
Die Literatur über politische Justiz ist unübersehbar. Jeder neue Prozess, der irgendwo auf dieser Erde gegen einen wirklichen oder vermeintlichen Gegner der herrschenden Ordnung geführt wird, öffnet die Schleusen literarischer Polemik und füllt die Bücherborde. Wer ein besonderes Interesse zu vertreten hat, unterlässt es nicht, auch noch sein Scherflein beizutragen, sei es in der individualisierten Fassung, die im Westen üblich ist, sei es in der schablonenartigen Form der kommunistischen Martyrologien und Pauschalanklagen. Es fehlt auch nicht an Publikationen der Verbände zum Schutz staatsbürgerlicher Freiheiten und der westlichen und östlichen Juristenorganisationen mit internationalem Geltungsanspruch. Gerade die Sachwalter der Juristenvereine eilen von Land zu Land, um jeweils die Verstöße der Gegenseite anzuprangern. Sie organisieren Protestaufrufe, stellen Fragebogen zusammen und sammeln Auskünfte, um zu zeigen, wie weit es die verschiedenen Länder mit der so schwer fassbaren Rechtsstaatlichkeit oder »Gesetzlichkeit« gebracht haben, auf deren Verankerung in ihren Verfassungen und Verhaltensgrundsätzen sie sich alle berufen.
Hinzu kommen die gelehrten Interpreten des geltenden Rechts und die nicht minder gelehrten Kommentatoren der Rechtsprechung. Von ihrer autoritativen juristischen Exegese sind sie freilich nicht mehr ganz so eingenommen wie ehedem. Da sie nicht mehr den Anspruch darauf erheben, aus der logischen Analyse der Texte unverbrüchliche Vorschriften ableiten zu können, versuchen sie nur noch, in die für den Tagesgebrauch bestimmte Auslegung der wechselnden Bestimmungen einen gewissen logischen Zusammenhang hineinzubringen. Manchmal sieht es so aus, als sei der Richter, das Hauptorakel des Gesetzes, sogar schon geneigt, ganz und gar darauf zu verzichten, die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten miteinander in Einklang zu bringen; zum mindesten ist er, wenn er dem unbeständigen Geschäft des Staatsschutzes obliegt, versucht, weniger der Partitur zu folgen als nach dem Gehör zu spielen: dann wird der Rechtsgrundsatz vom Lärm der Augenblickserfordernisse übertönt. Schließlich wären die Rechtstheoretiker zu erwähnen: Nicht selten steht ihr intellektueller Aufwand im umgekehrten Verhältnis zu dem Einfluss, den sie auf die Alltagspraxis ausüben. Theorie und Praxis gehen verschiedene Wege.
In sich selbst ist das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis noch kein ausreichender Grund, über das Wesen der Gerechtigkeit keine Erörterung anzustellen. So mancher Leser mag es als unbefriedigend empfinden, dass ich solche fundamentalen Fragen nur aufwerfe, wenn sie sich bei der Behandlung eines konkreten Gegenstandes zwingend aufdrängen. Wie sollte man sich mit politischer Justiz beschäftigen können, ohne nach Gerechtigkeitsprinzipien Ausschau