Politische Justiz. Otto Kirchheimer
aber auch gefährlich werden: Auf diese Weise werden Sympathiegefühle geweckt, wie sie die Masse gelegentlich für den Märtyrer übrig hat.
Wo nicht mehr das Handeln einzelner Individuen, sondern die Treue der Massen zum Streitobjekt wird, ist das logischere Ziel nicht Vergeltung, sondern die Sicherung äußerer Fügsamkeit. Das regierende System muss auf die Weise in Gang gehalten oder vielleicht sogar gestärkt werden, dass die Masse der Andersdenkenden wirksamer Antriebe zum Angriff auf das Regime beraubt und das Fußvolk im gegnerischen Lager verleitet wird, in der Passivität zu verharren: Dazu kann eine Politik gestaffelter Benachteiligungen und Belohnungen mit demonstrativen Unterwerfungsakten einzelner Gegner oder ganzer Gruppen von Gegnern beitragen. Wenn man moralische Zweifel und Treuekonflikte aus dem Lager des Regimes ins Lager des Feindes verpflanzen kann, hat man unter sonst gleichbleibenden Umständen die Chance, die äußere Verteidigungslinie zu halten und Abweichungen vom disziplinierten Normalverhalten der Bürger zu verhindern; so gibt man niemandem eine billige Gelegenheit, Märtyrer zu spielen, und gewinnt Zeit, um verlorene Seelen wiederzugewinnen. Das Reservoir der potentiellen Gefolgschaft des Gegners füllt oder leert sich mit den Wechselfällen auf dem eigentlichen Schlachtfeld. Wer den richtigen Schlüssel zu handhaben weiß, wird den Zugang zur Schar der Schwankenden, mag sie noch so weit abgeirrt sein, nicht verfehlen.4
Die Unterscheidung zwischen Führern und Gefolgsleuten, für die sich in den Strafgesetzbüchern die nötigen Hilfsmittel finden, garantiert in gewissem Umfang passiven Gehorsam und bewahrt den Vollzugsapparat der öffentlichen Ordnung davor, in Ohnmacht zusammenzubrechen oder zu einer bloßen Registriermaschine zu werden. Sie reicht gewiss nicht dazu aus, einem zerfallenden Regime über Katastrophen hinwegzuhelfen, die sich aus tieferen und umfassenderen Gründen nicht abwenden lassen, aber sie erspart ihm unnützen Aufwand und folgenschwere Blamage. Wird auf diese Unterscheidung, die den Mitläufern des Gegners die Gelegenheit gibt, aus der Kampffront auszuscheren, verzichtet, ohne dass gleichzeitig andere, primitive, universale und oft bestialische Formen der »Unschädlichmachung« – zum Beispiel Deportation oder Ausrottung nach »objektiven« Merkmalen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder nationalen Gruppe, einer Gesellschaftsschicht oder einer Religionsgemeinschaft – angewandt würden, so gerät das Regime in ein schwer lösbares Dilemma. Wer zwischen Führern und Gefolgsleuten einer politisch feindlichen Organisation keinen Unterschied macht, wird nahezu automatisch dazu getrieben, die Strafverfolgung unübersehbarer Massen von Gegnern in die Wege zu leiten.
Ein Dilemma dieser Art beschworen die amerikanischen Besatzungsbehörden in Deutschland herauf, als sie ihre deutschen Schutzbefohlenen veranlassten, Entnazifizierungsverfahren gegen sämtliche Angehörigen bestimmter, formal gekennzeichneter Kategorien einzuleiten, die eine Gesamtzahl von 3.669.230 Fällen ergaben. Diese millionenköpfige Masse hatte sich vor eigens dazu geschaffenen Organen zu verantworten, die ein Zwischending zwischen Strafgericht und Verwaltungsbehörde darstellten. Zweck des mit prozessualen Garantien ausgestatteten Verfahrens war, die zur Verantwortung Gezogenen je nach dem Grad ihrer Beteiligung an der Nazi-Politik in fünf Gruppen einzuteilen und der für die einzelnen Gruppen vorgesehenen Bestrafung zuzuführen.
Schon durch den Massencharakter der geplanten Aktion war die Idee ordentlicher Gerichtsverfahren nach dem Fließbandsystem (die von den anderen Alliierten nur mit großer Zurückhaltung – und nur solange es ihren politischen Interessen und Plänen entsprach – nachgeahmt wurde) zum Scheitern verurteilt; zumeist wurde aus den Verfahren eine papierne Aktenprozedur. Die Entnazifizierungsaktion isolierte nicht die führenden Personen des Nationalsozialismus von ihrer Gefolgschaft, sondern knüpfte im Gegenteil ein festes Band zwischen allen Entnazifizierungsobjekten – von den wirklichen Lenkern des politischen, wirtschaftlichen und Massenbeeinflussungsapparats des Dritten Reiches bis zum letzten Schulmeister und Postbeamten. Sehr bald mussten die Initiatoren der Aktion ihr eigenes Geistesprodukt in einer Sturzflut von Amnestien ertränken, bei denen kaum noch das Gesicht gewahrt wurde; damit begaben sie sich jeder Möglichkeit, die wirkliche Schuld an der nationalsozialistischen Barbarei anzuprangern, denn gerade im eigenartigen Bündnis großer Teile der gesellschaftlichen Oberschicht mit den deklassierten Elementen der deutschen Gesellschaft hatten die Wurzeln des Übels gelegen.
Dieser missliche Versuch, gegen ganze Bevölkerungsschichten strafrechtlich vorzugehen, zeigt, wie wichtig es ist, ein echtes Gerichtsverfahren von automatisch anwendbaren Disqualifizierungsbestimmungen oder einem rein formalen Sühneeid scharf zu trennen. Zieht man den Trennungsstrich, so sichert man sich wenigstens ein diskutables, wenn auch immer noch problematisches Mittel, die gerichtliche Aburteilung der Hauptverantwortlichen durchzusetzen und über die Masse der Gefolgschaft eine gewisse Kontrolle auszuüben; das Ziel wäre, das feindliche Lager im Endeffekt zu zersetzen und die unbestreitbare Tatsache seiner Niederlage im Bild des historisch und moralisch Notwendigen festzuhalten.5 Auf recht unangenehme Weise rächt sich jetzt die Entnazi fizierungsfarce an der Bundesrepublik, der ihre zynischen DDR- Rivalen immer wieder schwer widerlegbare Nazi-Akten aus der anrüchigen Vergangenheit heute noch in der Bundesrepublik amtierender Richter und Staatsanwälte servieren. Wie peinlich solche Dinge sind, ging schon vor einiger Zeit aus einer Darstellung des früheren Generalbundesanwalts6 hervor und ist danach durch den Fall seines Nachfolgers Wolfgang Immerwahr Fränkel erneut belegt worden.
Allgemeine Betrachtungen über die Unterschiede zwischen der Strafverfolgung der gegnerischen Führerschaft und der Zurückdrängung oder Einhegung der Gefolgschaft einer feindlichen Organisation geben Anlass zu konkreteren Feststellungen. Betrachtet man die Gegner eines politischen Regimes nicht als gefährlich widerborstige Einzelpersonen, sondern als politische Bewegungen, so muss man institutionelle Konsequenzen ins Auge fassen. In unserem Zeitalter ist die Gegnerschaft gegen ein bestehendes Regime kaum jemals die Angelegenheit kleiner, locker zusammengefasster Gruppen von Individuen, und noch seltener entspringt sie dem diffusen Aufbegehren privilegierter Gruppen auf den obersten Sprossen der gesellschaftlichen Stufenleiter. Auch geht es bei der Gegnerschaft der größeren organisierten Sektoren nicht um die Verteidigung einer bestimmten Sphäre (Religion, Eigentum und so weiter) gegen Übergriffe von Machthabern, die bereit wären, auf allen anderen Gebieten Kompromisse zu schließen. Seit dem 19. Jahrhundert, seit den Tagen der irischen Nationalisten, der englischen Chartisten und der deutschen Sozialdemokraten hat sich die kunstvolle Technik der regimefeindlichen Organisation, die aus der aufopferungsvollen Hingabe ihrer Anhänger ihre Lebenskraft schöpft, ebenso mächtig entwickelt wie die Herrschaftsorganisation der Staatsgewalt. Gelingt es einer solchen Gegenorganisation, die materiellen und ideologischen Interessen größerer Schichten aufzufangen und mit ihren Zielsetzungen zu verschmelzen, so steht das Staatsgebilde, das sich des faschistischen oder kommunistischen Systems der totalen Unterdrückung politischer Abweichungen nicht bedienen will, vor entscheidenden Problemen der politischen Lenkung und Kontrolle der Massen.
Beim beschleunigten Tempo politischer Umwälzungen in der Zeit, in der wir leben, kommt darüber hinaus dem Problem der gerichtlichen Aburteilung eines besiegten Regimes auf Geheiß des Siegerregimes eine nicht geringe Bedeutung zu. Einen politischen Gegner in Schach zu halten und die Gerichte dafür zu mobilisieren, ist etwas anderes, als einen Gegner, den man glücklich gestürzt hat, strafrechtlich zu verfolgen; die gerichtliche Prozedur entspringt in diesen grundverschiedenen Fällen nicht unbedingt denselben Motiven. In neuerer Zeit hat sich das politische Glück als sehr unbeständig erwiesen, und so manche Hydra, der politische Feinde den Kopf abgeschlagen hatten, hat neue Köpfe wachsen lassen. Aus der Möglichkeit und der Gefahr eines erneuten Umschwungs erklärt sich das intensive Interesse, das ein neuetabliertes Regime den Taten und Untaten seiner Vorgänger zuwendet; es sucht sie als verächtliche Kreaturen hinzustellen und benutzt die gerichtliche Erörterung der jüngsten Vergangenheit dazu, die breiteste Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das Land denen, die es aus dem Sumpf der Korruption und des Verrats befreit haben, in alle Ewigkeit Dank und Treue schulde; die jüngsten Illustrationen zu diesem Thema haben die von den neuen türkischen, südkoreanischen und kubanischen Machthabern veranstalteten Prozesse geliefert. Ein Regime, das sich solchermaßen anschickt, seine Vorgänger mit Hilfe der Gerichte zu diffamieren, hat zuvor das schwierige Problem zu