Politische Justiz. Otto Kirchheimer

Politische Justiz - Otto Kirchheimer


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      Wie beeinflusst dieser Wandel die Teilnahme der Justiz am politischen Geschehen im nationalen Rahmen? Die De-facto-Überwachung der potentiell feindlichen Elemente und ihre angestrebte Isolierung werden durch formlose Polizeimaßnahmen und, was noch wichtiger ist, durch innerorganisatorische Vorkehrungen (Eigenkontrollen in Gewerkschaften, Meinungsfabriken, Parteien, Verwaltungsbehörden und mit Staatsaufträgen versehenen Betrieben und Forschungsanstalten) sichergestellt. Die Mitwirkung der Gerichte wird dabei nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. In der Regel tritt das Gericht nur noch unter bestimmten Voraussetzungen in Aktion, und zwar: a) Wenn die erfolgreiche Handhabung von Polizei- und Sicherheitsmaßnahmen formale Freiheitsbeschränkungen erfordert; b) wenn die Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen die Demarkationslinie zwischen den (gewöhnlich hinreichend wirksamen) formlosen Beschränkungen und echten Zwangsmaßnahmen überschreiten und das Opfer auf einer gerichtlichen Entscheidung besteht; c) wenn sich das herrschende Regime für eine Politik totaler Unterdrückung seiner Gegner oder für eine Ermattungsstrategie entschieden hat, die dem Gegner jede politische Betätigung durch ständige gerichtliche Verfolgung unmöglich zu machen sucht, und d) wenn sorgsam ausgewählte Ausschnitte missliebiger politischer Betätigung den Gerichten unterbreitet werden, weniger zum Zwecke effektiver Unterdrückung als zur sensationellen öffentlichen Plakatierung des Kampfes gegen den Feind, gegen den auf diese Weise die öffentliche Meinung mobilisiert werden soll.

      Das ist freilich nur ein begrenzter Katalog möglicher Anlässe zu richterlichen Handlungen im Rahmen der in der nichttotalitären Gesellschaft der Gegenwart denkbaren Unterdrückungsmaßnahmen. In welchem Maße die Gerichte mit solchen Komplexen befasst werden müssen, wird von der jeweiligen innenpolitischen Situation abhängen. Die zahlreichen und vielfältigen nationalen Spielarten reichen von der extremen Weitherzigkeit Großbritanniens, bei der die Notwendigkeit gerichtlicher Entscheidungen minimal ist, bis zur weitgehenden Verbotspolitik, mit der die Bundesrepublik Deutschland der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« zuwiderlaufende Bestrebungen zu bekämpfen sucht.

      Angesichts der drastischen Veränderungen in den Arbeitsbedingungen der Gerichte und zugleich auch in der Struktur des nationalen Bewusstseins haben sich die Grenzen verengt, innerhalb deren die Gerichte politische Fragen entscheiden können. Aber aus denselben Gründen ist die mögliche Wirkung ihrer Entscheidungen größer geworden. Abgesehen von der Möglichkeit der Authentifizierung staatlichen Tuns (die eben darum geschrumpft sein mag), sind die Gerichte zu einer neuen Dimension der Politik geworden, die verschiedenen Typen von politischen Ordnungen, aber auch ihren Gegnern, als Medium dient, ihre Politik zu proklamieren und die Bevölkerung an ihre politischen Ziele zu binden.

      Im 19. Jahrhundert, als die Massenorganisationen erst begannen, profitierten viel eher die Freunde und Anhänger des Angeklagten als die Staatsgewalt von der Chance, im Gerichtssaal günstige Symbolbilder zu prägen und ihrer Propaganda damit einen neuen Auftrieb gerade dann zu geben, wenn sie zusätzlicher Impulse dringend bedurfte. Und oft genug waren die Behörden heilfroh, wenn es ihnen gelang, einen politischen Fall so durchs Gericht zu manövrieren, dass aus ihm keine neue gegnerische Agitationskampagne entstand. Des Angeklagten propagandistisches Talent und journalistische Zündkraft waren häufig gefährlicher als seine mäßige organisatorische Leistung. Feargus O’Connors Northern Star beim Prozess gegen Jack Frost im Jahre 1840, Armand Carrels National bei den Pairskammerverhandlungen gegen die Aufständischen von 1834, Karl Marx’ ätzende Kommentare zum Kölner Kommunistenprozess von 1852 konnten die Augenblicksniederlage im Gerichtssaal in einen moralischen Sieg ummünzen, der seine Wirkung auf das Publikum nicht verfehlte.

      In der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts bedrohen den nichttotalitären Staat und seine Organe die langfristigen Auswirkungen einer absinkenden öffentlichen Moral und der um sich greifenden politischen Apathie; totalitäre Staaten fürchten weniger revolutionäre Anschläge auf den Bestand ihrer Ordnung als Differenzen und Spaltungen in den Reihen der herrschenden Partei. Hier wie dort machen die Behörden infolgedessen viel bewusstere Anstrengungen, das Forum des Gerichtsverfahrens für die Zwecke der inneren Mobilmachung auszunutzen. Von den letzten Tagen des ersten Weltkriegs bis zu Israels Versuch, die einzigartige Gelegenheit des Eichmann-Prozesses mit der Rekapitulation des Hitlerschen Ausrottungsfeldzugs gegen die Juden als Angelpunkt für eine demonstrative Bekräftigung der nationalen Staatsidee im Angesicht der anhaltenden äußeren Bedrohung der staatlichen Existenz zu benutzen, hat es eine lange Kette von Bemühungen gegeben, die Wirksamkeit der politischen Aktion durch die Entfaltung des Gerichtssaaldramas zu erhöhen.

      Im ideologischen Ringen um die Beherrschung der Köpfe sind die Gerichte Organe, die mit den öffentlichen Angelegenheiten aufs engste verbunden sind. Zum mindesten in den nichttotalitären Ländern bleiben sie der direkten Kontrolle durch die Staatsexekutive entzogen. Die besondere Vertrauensposition, die sie im öffentlichen Bewusstsein behaupten, macht die Art, wie sie politisch gefärbte Prozesse behandeln, zu einem entscheidenden Element des politischen Geschehens. Damit nimmt aber auch die Gefahr zu, die solchen Prozessen innewohnt: die Gefahr der Verfälschung und Entstellung durch das Parteiische sowohl in den akzeptierten Prämissen der Rechtsprechung als auch in der Verfahrenshandhabung. Mit der neuen Rolle des politischen Prozesses gewinnen darüber hinaus die Techniken des indirekten Druckes an Bedeutung, die einen wesentlichen Teil der Verwandlung der begrenzten öffentlichen Meinung des 19. Jahrhunderts in die gelenkte Massenmeinung der Gegenwart ausmachen.

      Geht man davon aus, dass die Justiz mit einem Maß an Toleranz arbeitet, das nicht durch die Befehle eines klar erkennbaren Souveräns bestimmt ist, sondern durch die richterliche Interpretation der obwaltenden Meinungstrends und der verbindlichen politischen und moralischen Maßstäbe, so muss man sich fragen, über welches organisatorische und geistige Rüstzeug das Gericht verfügen kann, wenn es solche Aufgaben zu bewältigen hat. Das ist eins der Hauptthemen der vorliegenden Untersuchung. Greifbare Unterschiede bestehen zwischen einer Richterschaft, die auch noch angesichts der lastenreichen Anforderungen des Zeitalters die Möglichkeit hat, eigene Antworten und Kompromisslösungen zu suchen und zu finden, und einer, die auf die Ziele und Forderungen der politischen Machtorgane eingeschworen sein muss.

      Dem westlichen Richter dienen die sichtbaren Tendenzen der öffentlichen Meinung als Mahnmale: Er muss sich dessen bewusst sein, dass seine Entscheidungen, wenn sie dem Verhalten der Gemeinschaft als Norm gelten sollen, am Halbdunkel, am Ungewissen der Möglichkeiten und Zufallssituationen des Tages nicht Vorbeigehen dürfen. Der östliche Gerichtsfunktionär hat es viel einfacher: Er braucht nur die Details einer politischen Linie zu entwickeln, für die das politische Herrschaftsgebilde die Maßstäbe des Handelns und Unterlassens festgelegt hat. Auch angesichts der Zufallsfügungen und konzentrischen Pressionen der modernen Gesellschaft funktioniert, was die Voraussetzungen und Methoden der richterlichen Tätigkeit angeht, die traditionelle Richterschaft, die sich von Ideen und Meinungen leiten lässt, anders als die neuere, die nur Parteidirektiven zu empfangen hat.

      Bis zu einem gewissen Grade ist das Handeln des Richters durch das Verhalten des Angeklagten bedingt. Freilich wird, soweit es sich um den Angeklagten im alltäglichen Strafverfahren handelt, die Vertauschung der Rollen zwischen Angeklagtem und Richter über die Sphäre der Tagträume nicht hinausgelangen; einer verständlichen menschlichen Neigung folgend, wird der Angeklagte bestrebt sein, sich in der Zufallsbegegnung mit dem Gericht von einer möglichst gefälligen Seite zu zeigen. Anders beim politischen Angeklagten: Hier tritt eine echte Rollenvertauschung ein; sofern er überhaupt gewillt ist, sich den Situationserfordernissen zu beugen, hält sich seine Anpassungsbereitschaft in engen Grenzen und bezieht sich allein auf die Taktik des Vorgehens. Unter Umständen kann sie davon abhängen, wie er sich zum psychologischen Lavieren des Verteidigers stellt, dem es vielleicht gelingt, die große Kluft zwischen taktischem Augenblickserfolg und der Ausrichtung nach dem unverrückbaren Leitstern des Angeklagten, seinem politischen Fernziel, zu überbrücken. Im Wesentlichen aber bleibt die Rechtfertigung des politischen Angeklagten sein Bekenntnis zu der Sache, der er zu dienen glaubt. Insofern richten sich im politischen Prozess die Züge und Gegenzüge aller Prozessbeteiligten nach dieser einen Grundkonstellation.

      Sollte politische Justiz in diesem Sinne ihre letzte Rechtfertigung in den unergründlichen Zwecken der Geschichte finden, in deren Licht die Niederlagen, Missbräuche und Leiden von gestern die Gewähr für den größeren Ruhm von morgen sein mögen?


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