Politische Justiz. Otto Kirchheimer
unvermeidlich anhaftet, nach Möglichkeit reduzieren, und es muss intelligent genug sein, die politische Verantwortung für Fehlkonzeptionen und für noch so gravierende Irrtümer von der strafrechtlichen Verantwortung der einstigen Machthaber für die von ihnen oder auf ihre Veranlassung begangenen verbrecherischen und unmenschlichen Taten eindeutig und unmissverständlich abzugrenzen.
Mit der ständigen Vermehrung der Gefahren, die den existierenden Staatenordnungen drohen, rückt aber auch noch ein anderes Problem, ein alt vertrautes allerdings, in den Vordergrund. Da das Staatsinteresse als identisch gilt mit dem Interesse jedes Staatsbürgers, wird seit eh und je die Frage erörtert, ob auch jeder Staatsbürger bei akuter Gefahr aus eigener Entscheidung handeln dürfe, um die Erhaltung des Staates zu sichern. Eine uralte Lehre, die in Athen schon 410 v. Chr. Gesetzeskraft erhalten hatte,7 billigte jedem das Recht zu, den Übeltäter zu töten, der einen Anschlag auf die politische Ordnung der Polis verübte oder wesentliche Eingriffe in ihre Struktur vorgenommen hatte.8
Die These, dass wer immer sich gegen das bestehende Regime erhebe, damit auch seine eigenen staatsbürgerlichen Rechte verwirke und als Feind behandelt werden müsse, führt ein zähes Dasein. Sie ist sinnvoll und hat eine gewisse Berechtigung, wenn der Angriff auf das Regime die Organe des Staates nicht nur in der theoretischen Abstraktion, sondern auch in der konkreten Wirklichkeit am Funktionieren hindert: Das ist der ursprüngliche Kern aller Lehren vom Kriegsstandrecht. Wird aber diese These auch auf andere Situationen ausgedehnt, so führt sie zu einer ungerechtfertigten Neuverteilung der verfassungsmäßigen Aufgabenbereiche zugunsten der vollziehenden Gewalt zu einer Zeit, da es unverbrüchlicher Garantien gegen eine solche Funktionsverlagerung am meisten bedarf. Als Cicero die Catilinarier hinrichten ließ, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, vom Recht der provocatio an die Zenturiatkomitien Gebrauch zu machen, lieferte er der Nachwelt den klassischen Präzedenzfall. Der politischen Anarchie öffnet diese Lehre in dem Moment Tür und Tor, da jeder aus parteipolitischen Gründen ersonnene Mord an einem Gegner damit beschönigt werden darf, dass er dem vaterländischen Interesse diene. Genug Anschauungsmaterial zu diesem Thema haben die ersten Lebensjahre der Weimarer Republik hinterlassen.
Dass ein Staatsgebilde gut funktioniert, erweist sich daran, dass es über das nötige Rüstzeug verfügt, um seine Gegner nach vorher festgelegten Regeln und Zuständigkeitsabgrenzungen im Zaum zu halten, und dass es vom zweifelhaften Beistand ungerufener Parteigänger, die zur Selbsthilfe greifen, nicht überrannt werden kann. Damit es ohne schwere Störungen arbeiten könne, müssen die größtmöglichen Garantien dafür gegeben sein, dass Maßnahmen, die nur einer Partei oder Gruppe zum Vorteil gereichen, nicht als im öffentlichen Interesse erforderlich ausgegeben werden können. Aus dieser Sicht wird im vorliegenden Buch bei der Analyse der Typen geregelter Zuständigkeit für politische Rechtsfälle von der Darstellung des offenkundigen Legitimierungsversuchs begrenzter Sonderinteressen abgesehen. (Besonders häufig sind solche Bestrebungen in rudimentären Staatsgebilden – wie etwa den Barbarenreichen des frühen Mittelalters – wo sie der bloßen Sanktionierung der jeweiligen Ergebnisse einer nie abreißenden Kette privater Fehden gleichen.) Abgesehen wird hier aber auch von dem in unseren Zeitläuften nicht ganz seltenen Fall einer Staatsexekutive, die für sich keinen anderen Rechtstitel in Anspruch zu nehmen weiß als das eigene Bedürftigkeits- und Opportunitätszeugnis. (Eines solchen Stils bediente sich zum Beispiel Hitler beim sogenannten Röhm-Putsch vom Frühsommer 1934.)
Wer richtet?
Je umfassender und je weniger eindeutig bestimmbar die Regeln sind, die erlaubtes politisches Verhalten von unerlaubtem scheiden, desto wichtiger ist die Antwort auf die Frage, wer berufen sei, diese Regeln zu hüten und anzuwenden. In hohem Maße dreht sich die Geschichte der politischen Rechtsprechung um die Grundsätze, nach denen die mit der Urteilsfindung Betrauten ausgewählt werden. Die Vielfalt der Organe, denen im geschichtlichen Ablauf die Zuständigkeit für politische Rechtsprechung übertragen wurde, beweist im Grunde, wie sehr die jeweiligen Machthaber bei der Vervollkommnung ihrer juristischen Waffen ständig wechselnden Augenblicksnotwendigkeiten unterliegen. Weiterreichende Erfordernisse, die über den Augenblick hinausgreifen, führen indes dazu, dass sich in der Art, wie die Machthaber die Gegebenheiten und die Anforderungen des Augenblicks behandeln, gleichwohl bestimmte, des Öfteren wiederkehrende Gefüge herausbilden. Bei näherem Zusehen zeigen sich drei Wege, auf denen die Aufgabe der Authentifizierung des politisch Legitimen besorgt wird:
1. Über das Charisma der Einzelperson: des Stammeshäuptlings, des Priesters und (sowohl in der Theorie als auch – in stark wechselndem Maße – in der Praxis) des Herrschers des Altertums, des mittelalterlichen Königs oder des Monarchen der absolutistischen Zeit. Da hier jede Entscheidung unmittelbar dem Urquell des Rechts entspringt, beruht sie auf der überragenden Bedeutung ihres Ursprungs und leitet daraus auch ihre sachliche Berechtigung ab.
2. Über die politischen Körperschaften des Staates, ob aristokratischer, ob demokratischer Abkunft. Charakteristische Beispiele: im aristokratischen Zweig der Areopag in Athen, der Senat von Rom, das englische Oberhaus, der Senat in Frankreich; im demokratischen Zweig die athenische Volksversammlung, die römischen Zenturiatkomitien, die englischen Körperschaften, die über Karl I., und die französischen, die über Ludwig XVI. zu Gericht saßen, oder – in einer verkleinerten Form – die athenische Helia und die englisch-amerikanischen Schwurgerichte. Während der Quell der Autorität in diesen Fällen die dominierende und möglicherweise repräsentative Position des mit der politischen Rechtsprechung betrauten Organs ist, beruht jede einzelne Entscheidung auf der Abwägung der gebräuchlichen gesellschaftlichen Normen und der Bedürfnisse des Gemeinwesens; in die Waagschale fallen dabei intuitive, gefühlsmäßige und rationale Momente, die mit Vor- und Nachteilen für die Allgemeinheit und für das von der Entscheidung betroffene Individuum zu tun haben.
3. Über die Entscheidung des Berufsrichters: des römischen Quästors aus der Zeit der Republik, des Mitglieds des kaiserlichen Rates im späten Römischen Reich, des in Padua oder Bologna ausgebildeten Mitglieds eines kontinentalen Gerichts, des auf Grund seiner Anwaltserfahrung berufenen englischen Richters oder des von der Pike auf dienenden beamteten Richters der heutigen kontinentaleuropäischen Gerichtsverfassungssysteme. Das Organ, in dessen Namen das Urteil ergeht: Der Herrscher oder das Volk, tritt hier in den Hintergrund; entscheidend ist die inhaltliche Rationalität, der Zweck, dem das Urteil dient, und die formale Rationalität, das Geflecht der feststehenden Regeln, durch deren Vermittlung das Urteil zustande kommt.
In manchen Fällen kann die Autorität der Einzelperson oder der politischen Körperschaft oder der von ihnen ausgehende, wenn auch nur kurzfristig überwältigende nackte physische Zwang mächtig genug gewesen sein, die Vollstreckung des Urteils durchzusetzen. Aber ob es sich um den Kaiser in Rom oder in Byzanz oder um den französischen König aus der Ära des werdenden Nationalstaats handeln mochte: Das direkte persönliche Interesse des Herrschenden am politischen Rechtsfall stimmte nie ganz mit den Lehrsätzen vom Ursprung der richterlichen Autorität überein, auch dann nicht, wenn das Bedürfnis nach Einheit und Kontinuität eine willkommene Brücke vom Ausgang des Justizverfahrens zu seiner rationalen Rechtfertigung schlug, eine Brücke, die oft und gern benutzt wurde. Je nebelhafter aber auch noch dazu die Autorität war, umso unsicherer musste die Aussicht auf die Vollstreckung des Urteils sein.
Die aufgezählten drei Grundformen der politischen Gerichtsbarkeit treten in vier Hauptkombinationen auf. Die erste, die längst schon Geschichte geworden ist, stellt sich als Kräftegleichgewicht zwischen monarchischen und aristokratischen oder monarchischen und berufsrichterlichen Elementen dar. Das Kräfteverhältnis, das im Mittelalter zwischen dem Monarchen und seinen wichtigsten Vasallen bestand, gab dem Urteil eine Vollstreckungschance nur, wenn die Vasallen an der königlichen Gerichtsinstanz beteiligt waren. Die spätere berufsrichterlich-bürokratische Balance zwischen der königlichen Gewalt und dem Gewicht der rechtskundigen Richter, von der im Spätabsolutismus nur die Urteilsbestätigungsbefugnis des Monarchen übrigblieb, wurde zu einer der wesentlichen Voraussetzungen für das wirksame Funktionieren des Territorialstaates.
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