Nonstop. Boris Herrmann
Hugo Boss erreicht den Äquator nicht in neuer Bestzeit. Er bleibt drei Tage unter dem Rennrekord von 2016, fünf Tage hinter den hoch gesteckten Erwartungen. Neue, viel längere und leistungsfähigere Tragflügel, noch extremere Rumpfformen und eine ganz neue Software-Generation für die Selbststeuerung haben die Boote im Mittel um zehn, in der Spitze bis zu 40 Prozent schneller gemacht. Fabelzeiten sollen sie ermöglichen. Doch das Wetter will nicht mitspielen. Anderthalb Wochen danach muss auch Alex Thomson abdrehen und nach Delaminationen im Bug und Ruderbruch Kapstadt anlaufen. Der zweite große Favorit ausgeschieden.
In Goltoft an der Schlei bringen die Geschwindigkeiten und Anfälligkeiten der Flügelmonster einen Segler zum Grübeln, der sich mit Extremen auskennt. Wilfried Erdmann, einziger Deutscher, der die Erde in beiden Richtungen einhand und ohne anzuhalten umrundet hat, schreibt am 30. November in seinem Blog: »20 Knoten sind meines Erachtens zu schnell, um das Wichtigste am Segeln genießen zu können: Freiheit und Wildheit. Wenn ich eine Fahrt unternehme, wende ich mich ganz natürlich der See zu. Ich liege an Deck und schaue in die Wellen. Stundenlang. All das entfällt bei den Racern. Es ist eine ganz andere Welt.«
Als ihm ein Freund die Zeilen in den Südatlantik schickt, antwortet Boris Herrmann: »Sehr weiser Mann. Was wir hier machen ist Wahnsinn. Es kracht, rumpelt und scheppert nur noch.«
Auf die Frage, wie er seinen Rekordversuch auf dem Maxi-Trimaran Idec im Vergleich empfand, auf dem er fast doppelt so schnell unterwegs war, schreibt er: »Das war easy. VG (Vendée Globe) ist krass.« Was genau? »Alleinsein«.
Noch am gleichen Tag bricht das Boot von Kevin Escoffier auseinander, als es mit hoher Geschwindigkeit in einen Wellenberg rast und dort brutal abgebremst wird. Die PRB, vor dem Start umfangreich verstärkt, läuft binnen Minuten voll mit Wasser. Escoffier kann gerade noch einen Notruf absetzen, seinen Überlebensanzug anziehen und die Rettungsinsel klarmachen, als er vom Seegang über Bord gewaschen wird. Der Super-Gau. Kurz darauf bricht die Nacht herein.
Boris Herrmann und drei weitere Skipper in der Nähe werden von der Wettfahrtleitung zu Hilfe gerufen. Als sie am Havarieort eintreffen, segeln sie Suchmuster ab, um die Insel zu finden – ein fast aussichtsloses Unterfangen bei vier bis fünf Meter hoher See und Starkwind. Doch wie durch ein Wunder gelingt Jean le Cam, dem 61-jährigen Veteran des Rennens, die Rettung Escoffiers. »Kevin ist in Sicherheit«, schreibt Herrmann am frühen Morgen an sein Team. »Gottseidank!«
Volles Potential – auf einer letzten Testfahrt vor der Regatta sehen wir, wozu die Seaexplorer fähig ist.
DIE HÄRTE DES RENNENS
Der Vorfall hängt ihm noch tagelang in den Klamotten. Er braucht mehrere Stunden, bevor er wieder richtig ins Rennen zurückfindet. Zum einen, weil er für die Suche seine letzten Reserven mobilisieren musste, zum anderen, weil da etwas geschehen ist, das er bis dahin stets für unmöglich gehalten hatte: dass ein Imoca60 mit einem Schlag auf Tiefe geht. Herrmann, ein entschlossener Segler, aber kein Hasardeur, trägt nicht mehr nur Verantwortung für sich allein. Vor einem Jahr hat er geheiratet, jetzt ist da auch noch Malou. Vielleicht schlaucht ihn der Horror dieser Nacht beim Gedanken an seine Liebsten umso mehr.
Während Escoffier und le Cam per Video-Schalte mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron scherzen, als wären sie gerade auf einem Vater-Sohn-Törn an der bretonischen Küste, sagt der Hamburger in einem Interview: »Das war knapp! Kevin hat meines Erachtens noch gar nicht realisiert, wie viel Glück er hatte. Er war praktisch schon so gut wie tot, als er in seine Rettungsinsel kletterte.«
Mehr und mehr beginnt Herrmann unter dem groben Seegang, dem stark böigen Wind und den Grenzen seines Bootes im Südmeer zu leiden. »Das Zähnezusammenbeißen, wenn das Boot in die Kreuzseen schlägt. Die Sturzflüge nach Surfs mit 27 Knoten Fahrt.« Es fühle sich an »wie freier Fall«.
Er wird schier zerrissen zwischen sportlichem Anspruch und der Maxime, nur heil im Ziel anzukommen. »Einen Moment gewinnt Vorsicht die Oberhand, fünf Minuten später der Wunsch, keine Meilen zu verlieren.«
Ein unvorstellbarer innerer Kampf, der sich fernab jeder Zivilisation abspielt. Und da ist gerade mal ein Drittel des Rennens gesegelt.
Von Beginn an sei er nie richtig in einen Flow gekommen, sagt Boris Herrmann, als er im Salon des alten Ferienhauses in Longeville-sur-Mer seine Erlebnisse zurückspult. Erst die Stürme im Nordatlantik, dann ein technisches Problem im Sankt-Helena-Hoch, das ihn in den Mast zwingt, danach die Havarie von Kevin Escoffier – »ständig war was«.
Hinter Kap Hoorn und nach einer Serie kleinerer Schäden, von denen jeder sein Rennen hätte beenden können, zieht er geknickt Bilanz. Er sei in eine Negativ-Spirale geraten, befindet er. Zurückgefallen auf Platz elf, wirkt er abgekämpft, seine Stimme belegt. Wieder so ein emotionaler Tiefpunkt, den er mit der Welt teilt.
Manche Beobachter mutmaßen schon, dass ihm die Härte, der unbedingte Wille fehle. So beschreibt er sich nach dem Finish auch selbst: »Ich bin nicht so ein Stahlbetontyp wie Thomas Ruyant, der einfach nie Zweifel hat«, sagt Boris Herrmann.
Aber das ist allzu selbstkritisch. Denn der gebürtige Oldenburger kann sich voll reinhängen in eine Aufgabe. Er hat enorm viel Erfahrung, mehr als das Gros seiner Wettbewerber. Er gibt nie auf. Und was ihm allein an Bord, in der einer Raumkapsel nicht unähnlichen, rohen, kargen Kanzel seines Bootes entgeht: Andere Skipper, die ihre Zweifel und Schwächephasen vor der Welt verbergen, sind nicht weniger angeschlagen vor dem Rückweg im Atlantik. Viele verheimlichen Schäden an ihren Booten hartnäckig bis ins Ziel, schicken nur Videos, die keine Rückschlüsse auf technische Mängel zulassen, und in denen sie Stärke demonstrieren.
Tatsächlich aber setzt das Südpolarmeer allen schwer zu. Der spätere Sieger, Yannick Bestaven, segelt sich in einem Husarenritt vor Kap Hoorn den Bugkorb ab und beschädigt seine Vorsegel-Rollanlagen fast irreparabel. Jean le Cam, mit fünf Teilnahmen der Routinier im Feld, kämpft mit schweren strukturellen Schäden im Bugbereich seines Bootes. Er muss Teile seiner Ballasttanks zersägen, um überhaupt genug Material für die Reparatur zu haben. Als er im Ziel ist, bekennt er: »Ich habe schon viele Schwierigkeiten erlebt, aber diesmal war es unerträglich. Es grenzt an ein Wunder, dass ich heute hier bin. Es ist unfassbar. Diese Vendée Globe war eine kranke Angelegenheit.«
Was anfangs nur wenige als Stärke des deutschen Vendée-Novizen erkennen – seine Vorsicht und Voraussicht –, wird spätestens auf dem Rückweg im Südatlantik zu Boris Herrmanns Trumpf.
Er hat seine Seaexplorer – Yacht Club de Monaco bis hierher geschont, bewahrt, auf 100 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit gehalten. Vom hinteren Teil der Führungsgruppe muss er nun attackieren, aber: Er kann es auch.
Sein verhaltenes Agieren im Südmeer erscheint plötzlich nicht mehr ängstlich, sondern weitsichtig, schlau, konsequent. Er mag auch Glück gehabt haben, dass er im Pazifik und vor der brasilianischen Küste zwei Mal dank günstiger Wetterlagen wieder zur Spitze aufschließen kann. Aber Glück gehört bei diesem Rennen dazu.
Und so segelt er ab der Breite von Récife tatsächlich um den Sieg mit, loggt im Südost-Passat mehrfach die höchsten Etmale, geht am 15. Januar nach Abzug seiner Zeitgutschrift für die Rettungsaktion von Kevin Escoffier rechnerisch erstmals in Führung. Eine Sensation wie in Zeitlupe, denn noch liegen gut 3.500 Seemeilen vor seinem Bug – ein ganzes Transat-Jacques-Vabre-Rennen, nur in Gegenrichtung.
EINE ART HOME RUN
»Ich bin abergläubisch, wie die meisten Segler. Ich spreche nicht übers Gewinnen«, wiegelt er ab. Aber das tun längst andere: Jérémie Beyou, der gestrauchelte Favorit, der sich durchs Mittelfeld quält, sieht ihn als aussichtsreichen Siegkandidaten, auch Yannick Bestaven, der lange geführt hatte.
Und die Welt schaut zu. Boris Herrmann gewinnt in den Medien jetzt täglich mehr Prominenz. Frankfurter Allgemeine, Tagesspiegel, Süddeutsche, Bild – allenthalben tauchen Berichte über diese kuriose, zehrende Regatta auf. Selbst Le Figaro nimmt ihn, den Nicht-Franzosen, auf die Titelseite. Und in den täglichen Vendéelive-Schalten der Veranstalter auf YouTube wird